30 Jun 2017


„Kurz vor 90“ – Generalprobe zum 12. Sinfoniekonzert mit Herbert Blomstedt

Man mag es kaum glauben, dass dieser Mann in wenigen Tagen schon seinen 90. Geburtstag feiern wird. Herbert Blomstedt kommt am Freitagmorgen frisch und pünktlich zehn Uhr auf die Bühne der Semperoper, begrüßt die Stimmführer, winkt mit der für ihn typischen Geste – »Auf geht’s« scheint sie zu sagen – ruft »Guten Morgen« nach hinten zu den Blechbläsern. Das »Guten Morgen« der Antwort kommt zackig und klingt fast militärisch präzise. »Militärisch« ist hier nichts, präzise jedoch alles in den folgenden 135 Minuten.

Für die Probe hat Herbert Blomstedt die Reihenfolge umgedreht: zuerst kommt Anton Bruckners vierte Sinfonie. Nein, sie »kommt« nicht, sie erwacht, leuchtet, wächst aus dem Orchester. Präzision ist hier nicht mit langweiliger, steriler Perfektion zu verwechseln, sie ist die Grundlage für eine minutiöse Abstimmung, für eine ausgezeichnete Artikulation und feinste Nuancen. Man kann nur staunen und sich wundern, was da entsteht – doch mehr dazu nach den Konzerten. Denn hier, zur Generalprobe, wird ja noch gearbeitet, weshalb das Resultat einmal noch nicht im Mittelpunkt der Betrachtung stehen soll, sondern eher der Weg dahin.

Da ist der Dirigent, ein Mann des Maßes, der stets mit klaren Argumenten umgeht, eher zurückhaltend auftritt, höflich. Hier nun zeigt sich, dass er sehr fordernd sein kann. Wenige Stellen sind es nur, an denen er etwas kommentiert. Kein Mal unterbricht er die Probe, aber er lenkt, präzise, mit einem Wort nur, einem knappen Kommentar, einem Zischen (bitte noch leiser!), einmal kommentiert er auch im Scherzo »das ist schön!«.

Ausrufungszeichen sind in seinen Forderungen ebenso immanent wie das »bitte«. Herbert Blomstedt ist nicht allein die Höflichkeit in Person, er schätzt und respektiert das Orchester, jeden einzelnen Musiker. Mit den ersten Worten nach der Sinfonie bedankt er sich zunächst auch und sagt, dass es ihm eine Freude gewesen sei, mit ihnen (dem Orchester) zu musizieren, hebt einzelne (das Horn) hervor. Und dies alles beruht auf Gegenseitigkeit – man sieht und spürt die ganze Zeit über, wieviel Freude es jedem einzelnen Orchestermitglied bereitet, mit diesem Dirigenten zu musizieren – von dieser Atmosphäre lassen sich nicht nur die Mitglieder des Freundeskreises anstecken, sondern auch die Schüler, die – zum Teil in guter Konzertgarderobe – während der 75 Minuten, welche die Sinfonie dauert, mucksmäuschenstill dasitzen und lauschen.

Nach dem Stück gibt es eine kurze Zusammenfassung von Herbert Blomstedt: was ihm wichtig, wie das Stück zu lesen ist. Immer gibt er dabei Antwort auf die nicht gestellte Frage »Warum?«, die meisten Passagen singt er vor – allein die Gestaltung eines Staccato hat tausend Unterscheidungsmöglichkeiten, welche die Aussage ändern…

Nach der Pause dann betritt Sir András Schiff die Bühne, auch er hat die Noten für die Arbeit dabei – selbstverständlich könnte er ohne spielen. Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 wird erweckt, gewinnt Farben, kammermusikalische Feinheit – eine Spezialität der Kapelle – und gesanglichen Ausdruck. Immer wieder horcht man auf – nicht grobe Effekte sorgen dafür, sondern kleine Betonungen, Nuancen, Färbungen. Herbert Blomstedt leitet das Orchester – nicht mit minimalistischen Gesten, sondern mit ganzem Körpereinsatz. Nein, nicht wild, aber entschlossen und mit verblüffend jugendlicher Vitalität – 90? Kann nicht sein!


Wolfram Quellmalz