10 Jun 2017


Mit Rüblikuchen zu Daniel Harding – Ausflug des Freundeskreises nach Wrocław

Freunde wollen natürlich auch begleiten, und so machte sich eine Gruppe des Freundeskreises am zweiten Juni-Wochenende auf den Weg zum Narodowe Forum Muzyki Wrocław (Nationales Musikforum Breslau), ein Konzert der Staatskapelle unter der Leitung Daniel Hardings zu besuchen.

Wenn man schon aufbricht, will man etwas erleben – damit es hinterher umso mehr zu erzählen gibt. Ein Konzertbesuch allein wäre da also nicht ausreichend gewesen. Und so ging es am 10. Juni um acht Uhr zunächst in den eigenen »Spuren« in Richtung Görlitz / Zgorzelec, dann aber über diesen im April besuchten Punkt hinaus. Die Fahrt führte weiter durch die Lausitz und schließlich nach Niederschlesien.

Den ersten Halt gab es in Świdnica (Schweidnitz) mit der zwischen 1656 und 1657 gebauten Friedenskirche. Nur ein Jahr Bauzeit – das hört sich phantastisch an, rührt aber von den Auflagen her, welche den Protestanten nach dem Westfälischen Frieden auferlegt worden waren: dauerhafte Baumaterial wie Steine waren verboten, Eisen (wie für Anker, Nägel oder Beschläge) ebenso. Und: schnell musste es gehen. Mehr als ein Jahr durfte die Bauzeit nicht betragen. So baute man vor allem mit Holz und Lehm – ein Fachwerk, das sich als äußerst dauerhaft erwies, wovon es auch in unseren Tagen noch zeugt. Die Friedenskirche gilt als die größte Fachwerkkirche Europas. »Fertig« war sie übrigens 1657 noch lange nicht. Der gesamte Innenausbau erfolgte noch – in barocker Pracht. Als letzter großer Bestandteil wurde 1752 der Altar eingefügt, zuvor waren bereits Emporen, Deckenbemalung und anderes entstanden. Schon 1708 übrigens war ein seitlich stehender Glockenturm errichtet worden. Beides – Glocken und Turm – waren zuvor noch verboten gewesen.

Früh hatte es schon eine Orgel in der Friedenskirche gegeben. Zwischen 1666 bis 1669 schuf Orgelbaumeister Christoph Klose aus Brieg ein aus 3500 Pfeifenbestehendes Instrument. Später wurde der Bau um die kleine Orgel eines unbekannten Meisters ergänzt (1695 vollendet). Zu den Organisten, die hier wirkten, gehörte unter anderem auch der einstige Bach-Schüler Christoph Gottlob Wecker. Während die kleine Orgel – neben Reparatur- und Wartungsarbeiten – so erhalten blieb, wie sie einst gebaut worden war und heute mit ihrer Originalität beeindruckt, hat die Klose-Orgel Umbauten und Umgestaltungen über sich ergehen lassen müssen – wie nahezu alle Kirchenorgeln. Sie hat Zeiten und Moden überstanden, wurde gepflegt und auch manchmal nicht gepflegt. Nach 2008 schwieg sie, da sie sich in keinem spielbaren Zustand mehr befand.

Mittlerweile ist viel passiert. Zweitausendeins schon war die Friedenskirche in den Rang einer UNESCO Welterbestätte erhoben worden, was sicher geholfen hat, Spender und Orgelpfeifenpaten zu finden. Dass der jetzige Zustand der Orgel wieder sehr erfreulich ist, davon konnte sich die Reisegruppe am 10. Juni überzeugen. Organist Maciej Bator spielte auf beiden Instrumenten und eröffnete sein kleines Programm mit einer Estampie aus dem Robertsbridge Codex von 1330. »Estampien« waren ursprünglich Tanzlieder, später wurden sie als Gattungsbezeichnungen für Musikstücke verwendet, ähnlich den aus den Kunsttänzen übernommenen Bezeichnungen in einer Suite (Gavotte, Allemande usw.). Solche Pretiosen – wie auch Johann Sebastian Bach (Fuga in g, BWV 578 auf der kleinen Orgel und Praeludium in G BWV 541, 1 auf der großen) – zeugen natürlich nicht nur von der Finger- und Fußfertigkeit des Organisten, sondern stimmen auch auf den Klang ein, hier besonders. Während das kleine Instrument auch deutlich »kleiner« klingt, fast schon fremd (eben wie eine kleine Kirchenorgel in einer großen Kirche), wirkt auch die KloseOrgel in der trockenen Akustik des großen Raumes vollkommen ungewohnt – Holz statt des gewohnten Steines. Als Bereicherung konnte man die Zusammenstellung der Stücke erleben: Bert Matters »Fantaisie sur Psaume 90« (kleine Orgel) zieht seinen Reiz nicht zuletzt aus minimalistischen Elementen, wie dem ostinaten G im Bass, das von der Melodie umtanz wird oder rhythmisch prägenden Zweitonmotiven. Mancher Orgelfreund hat sich besonders über Sigfried Karg-Elerts »Marche Triumphale – Nun dankte alle Gott!« gefreut (Klose-Orgel).

Nach diesem Abstecher ging es weiter zum „Sofitel“ in Wroclaw und –nach kurzer Ruhepause und Erfrischung – ins Narodowe Forum Muzyki Wrocław. Das Nationale Musikforum wurde in Vorbereitung auf das Europäische Kulturhaupstadtjahr 2016 nach den Plänen des polnischen Architekten Stefan Kuryłowicz (der 2011 bei einem Unfall ums Leben kam) errichtet und 2015 eröffnet. Es verfügt über vier Konzertsäle, der größte mit 1800 Plätzen. Seine Akustik ist vorzüglich, wie sich die Mitglieder des Freundeskreises überzeugen konnten. Warm und angenehm wird die Musik aufgenommen, so dass man sich auch weiter seitlich sitzend nicht im »Abseits« fühlt. Für die Akustik ist die Artec Consultants aus New York verantwortlich, welche unter anderem auch an der Symphony Hall Birmingham mitgewirkt haben. In solch einer Umgebung brachte Daniel Harding den Klang der Staatskapelle wunderbar zur Entfaltung.

Nicht zuletzt war das Programm so farbenreich wie tiefgründig. Im Mittelpunkt standen die »Kindertotenlieder« Gustav Mahlers. Der Verlust eines Kindes ist wohl der schwerste, den man erleiden kann – unermesslich und nicht zu vergleichen deshalb (es gibt keine Grade von Leid). Für zurückbleibende Kinder (Waisen) oder Ehepartner (Witwen) gibt es in allen Sprachen Bezeichnungen, für Eltern, die ein Kind verloren haben, dagegen kaum. »Sh’khol« stellt im Hebräischen eine Ausnahme dar. Friedrich Rückert hat den Kindesverlust gleich mehrfach in kurzer Zeit erleben müssen. Seine Texte zeugen vom Schmerz und dem Ringen um eine Verarbeitung. Seine Texte tragen – nicht zuletzt durch Gustav Mahlers Vertonung – zum Bewahren bei.

Einen ausführlichen Konzertbericht finden Sie hier.

Den Abend ließ die Reisegruppe schließlich noch in der Altstadt Wrocławs ausklingen, um gleich darauf am nächsten Morgen noch einmal hierhin zurückzukehren. In einer fünfstündigen (!) Stadtführung gab es – incl. Aufenthalt zur Stärkung in einem Café – vieles zu entdecken. Im Gegensatz zu Städten wie Dresden oder Prag ist Wrocław nicht durch eine bestimmte Epoche geprägt. Hier bestehen Barock und Moderne nebeneinander, Rekonstruktion und Erhaltenes.

Ach, der Rüblikuchen. Kann man beim zweiten Mal schon von »Tradition« sprechen?
(Nein! Immer dann, wenn »Traditionen« beschworen werden, sollte man sowieso misstrauisch werden.) Aber egal – wichtig ist: Wie schon beim Görlitz-Ausflug hatte die Reiseleiterin einen Rüblikuchen gebacken und die Gruppe damit verproviantiert. Der kam so gut an, dass am Ende kein Stück mehr für Daniel Harding übrig war. Aber was hätte der auch damit anfangen sollen? In die Partitur krümeln etwa?


Wolfram Quellmalz