3 Nov 2017


„Tradition und Gefährdung – Gedanken über den Klang der Sächsischen Staatskapelle“

Der spezifische Klang eines Orchesters (hier die Sächsische Staatskapelle) ist eine reine Sinnesempfindung (lateinisch: Sensation). Diese Sinnesempfindung kann der Hörer nur subjektiv beurteilen.

Wissenschaftliche Klanguntersuchungen, vor allem wenn sie von wenig sensiblen und rational denkenden Physikern ausgeführt werden, führen meistens zu falschen Ergebnissen. Die Klangwahrnehmung eines Orchesters bewegt sich fast ausschließlich im metaphysischen Bereich.

Nachweisbar sind die Lautstärke eines Orchesters, die Beeinflussung seines Klanges durch äußere Umstände wie z.B. die Hörsamkeit, fälschlich Akustik (griechisch: Lehre vom Schall) genannt, die festliche, bzw. nicht festliche Beschaffenheit des Konzertsaales, die Qualität eines Dirigenten (subjektiv) oder die augenblickliche Sensibilisierung von Hörern und Musikern.

Trotzdem hat die Staatskapelle einen unverwechselbaren und schnell erkennbaren eigenen Klang. Die Wiener Begründung für den Wohlklang ihrer Philharmoniker trifft auf die Staatskapelle nicht zu. Dort heißt es, dass die Wiener Musiker von gleicher Landschaft und Schule geprägt seien.

Die Dresdner haben im Gegensatz zu den Wienern ihren Musikernachwuchs schon zu Schützens und Quantzens Zeiten aus unterschiedlichsten Regionen Europas rekrutiert. Mit der extremen Herausbildung der europäischen National-staaten verlagerte sich die Nachwuchssuche bis zum Ende des Zweiten Welt-krieges mehr und mehr auf die nationale Ebene.

Die Musiker der Staatskapelle stammten noch bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts aus allen deutschen Landen: Klarinettist Schütte aus Westfalen, Flötist Rucker aus Oberfranken, Hornist Wirrmann aus Berlin, Trompeter Simon aus Böhmen usw. Nur die Abschottungspolitik der DDR beschränkte für vierzig Jahre die menschlichen Ressourcen auf den sächsisch-thüringischen Raum.

Drei weitere Namen mögen die eventuell bestehende These von der Einheitlichkeit des Kapellnachwuchses widerlegen: Oboist König (Vorkriegs- und Kriegs-zeit), Hornist Damm (DDR- und Nachwendezeit) und Konzertmeister Mühl-bach (Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit). Die beiden Bläser waren klangliche Extreme und passten nicht in das Bild vom „typisch Dresdner Klang“. Die König-Schule mit ihrem hellen Klang hat sich im Kölner Oboisten Hucke und in dessen Schüler Miller (mein Kollege im Frankfurter Museumsorchester) fort-gesetzt. Gleichzeitig erlebte ich in Frankfurt den dunklen Oboenklang von König-Nachfolger Tolksdorf bei dessen Schüler Bellmann wieder. Damm ist als hervorragender Toniker bereits legendär. Mühlbach hätte mit seiner Klasse in jedes Spitzenorchester der Welt gepasst.

Ein berühmter deutscher Komponist soll im Zusammenhang mit dem Klang der Staatskapelle das Wort Wunderharfe gebraucht haben. Für diesen Ausdruck halte ich das Klangspektrum der Harfe für zu begrenzt. Wir wissen jedoch alle, was mit diesem Kompliment gemeint war.

Ich kann mich mehr mit der Bezeichnung Wunderorgel anfreunden. Das ist eine Orgel, die in allen Registern einen ausgeglichenen Klang hat, die Organisten zur Ausführung extremer Dynamik befähigt und trotzdem nicht schreit. Diesem Klangideal entsprach die originale Gottfried Silbermann-Orgel der Frauenkirche, auf der 1736 Johann Sebastian Bach spielte, und entspricht heute die generalüberholte und räumlich neu eingepasste Jehmlich-Orgel in der Kreuzkirche. Es ist das Klangideal der Staatskapelle.

Silbermann-Spezialist Frank-Harald Greß nennt die Jehmlich-Orgel die Zweite Dresdner Wunderharfe. Analog zu oben erlaube ich mir nun, die Kreuzkirchorgel ein Wunderorchester zu nennen. Die beiden genannten Orgeln haben im Gegensatz zur neuen Frauenkirchorgel von Daniel Kern den großen Vorteil, dass sie von ihren Erbauern genau auf die schallspezifischen Eigenschaften des Raumes, in dem sie erklangen bzw. erklingen, abgestimmt wurden.

Die Staatskapelle muss ihr auf die Semperoper abgestimmtes Klangideal bei ihren Weltreisen auf die Konzertsäle unterschiedlichster Qualität und Größe übertragen, ohne dabei ihren vom Publikum geforderten Charakter verändern oder gar verlieren zu dürfen.

Hier stößt die moderne Musikindustrie nicht nur an harte Grenzen, sondern sie verfälscht und degradiert aus Geschäftsgründen eine über Jahrhunderte gewachsene Klangvorstellung. Das gilt für Orchester wie die Staatskapelle gleicher-maßen wie für den modernen Orgelbau.

Für Orchester mit Klangcharakter besteht die Gefahr der Herausbildung eines Einheitsklanges, der, wie die Steinway-Konzertflügel mit ihrem kalten und hellen Klang, den Lautstärkeanforderungen riesiger Konzertsäle genügen muss. Die neuen Orgeln werden häufig unter Verletzung aller Hörsamkeitsgesetze als Allerweltsorgeln konzipiert, um von Kirche zu Kirche reisenden und z.T. mittelmäßigen Organisten in Stundenschnelle das Einregistrieren zu ermöglichen.

Die Nutzung großer Kirchen als Konzertsäle entspringt zumeist kommerziellen und nicht künstlerischen Ideen. Sie widerspricht allen denkbaren Raum- und Schallgesetzen. Die Zuhörer werden klanglich getäuscht und die Musiker quälen sich mit dem Nachhall herum. Die erhabene Schönheit eines Raumes wie in der Frauenkirche ist nicht unbedingt identisch mit dessen Klanglichkeit.

Welches Klangideal der Staatskapelle ist nun also gefährdet?

Über knapp fünf Jahrhunderte haben gut ausgewählte und exzellente Musiker mit Unterstützung durch sensible Dirigenten (keine Taktschläger), die zumeist selbst Musiker und Komponisten waren, trotz individueller Verschiedenheit (s.o.) die Einpassung in einen idealen und gut ausregistrierten Klang erprobt und diese Fähigkeit an den Nachwuchs weitergegeben. Die einzelnen Musiker der Kapelle ordnen sich daher klanglich unter und können sich bei Bedarf ur-plötzlich als Solisten über das Orchester erheben. Wegen des dynamisch disziplinierten Kapell-Tuttis brauchen Solisten ihren Ton nicht zu forcieren.

Der Klang der Staatskapelle ist warm und eher dunkel zu nennen. Er hat eine Seele.

Die Staatskapelle hat die Fähigkeit entwickelt, jedes Crescendo aus dem absoluten Pianissimo zu beginnen, aber schon bei 80 bis 90% der möglichen Laut-stärke enden zu lassen. Dadurch ist ihr Klang gut gestützt und wirkt nie brutal, die Intonation bleibt ungetrübt und die Kapelle hat selbst im Fortissimo noch einen fundierten und schwebenden Wohlklang.

Eine absolut metaphysische Eigenschaft der Staatskapelle ist die Fähigkeit, das Nichts zwischen den Tönen mit Spannung zu füllen. Der chinesische Philosoph Laozi sagte vor 2.500 Jahren: Durch Tonkneten macht man Gefäße, auf dem Nichts darin beruht des Gefäßes Brauchbarkeit. Das lässt sich frei auf die Musik übertragen: Durch Spielen von Musikinstrumenten erzeugt man Töne, auf dem Nichts dazwischen beruht der Töne Brauchbarkeit (Musikalität). Laozi würde beim Klang der Kapelle zu jubeln beginnen.

In meinen ironischen Erinnerungen an die Flöte habe ich die Staatskapelle mit einer U-Bahn verglichen. Beim Tutti-Einsatz gleicht sie dem Luftzug, mit dem sich die Einfahrt einer U-Bahn in den Bahnhof ankündigt. Das ist die berühmte Schrecksekunde der Kapelle.

Ebenso ist die Kapelle in der Lage, beispielsweise bei Franz Schubert gleich-zeitig mit einem weinenden und einem lachenden Auge zu musizieren. Das ist ein logisch nicht nachvollziehbares Phänomen.
Nicht zuletzt mag die Beibehaltung des deutschen Blechs und des deutschen Klarinettensystems dem Wohlklang der Kapelle sehr förderlich gewesen sein.

Im Gegensatz zur Staatskapelle ist der laute und virtuose Klang der Berliner und New Yorker Philharmoniker wegen der bereits erfolgten Anpassung an die riesigen Konzertsäle schon leicht verwechselbar. Die New Yorker sind nicht als typisch amerikanisches Orchester zu bezeichnen. Der Klang des Philadelphia-Orchesters z.B. ist viel individueller.

Die Homogenität der Wiener Philharmoniker wird tatsächlich wesentlich von der Landsmannschaftlichkeit und der einheitlichen Schule geprägt. Sächsische Staatskapelle und Wiener Philharmoniker haben die Möglichkeit, nach jeder Konzertreise den Originalklang in ihren wundervollen Opernhäusern wieder „aufzutanken“.


Nanjing im November 2006
Christoph Dürichen