16 Jan 2022


Britten, Walton und Elgar im fünften Symphoniekonzert

Daniel Harding und Antoine Tamestit musizieren mit der Staatskapelle Dresden nach Beendigung der Corona-Schließung.

Nach dem Ableben von Henry Purcell (1659-1695) hatte England keine bemerkenswerte Komposition hervorgebracht, bis am 19. Juni 1899 Hans Richter (843-1916), damals Leiter des Hallé-Orchesters Manchester, in einem Konzert in der Londoner St. James´s Hall Edward Elgars „Variationen über ein eigenes Thema für Orchester op. 36“, denen man später den Beinamen „Enigma= Rätsel“ beifügte, uraufführte.

Der Musiker Edward Elgar (1857-1934) hatte als Autodidakt-Komponist neben seinem Tanzmusik-Broterwerb mit Kantaten und Oratorien zwar Achtungserfolge erzielt. Aber sein 1898 komponierte „Land of Hope and Glory“, inzwischen die heimliche  Nationalhymne der Briten, war unbeachtet geblieben. Mit dem Erfolg „Enigma“ erreichte er nicht nur einen Erfolg, sondern letztlich seinen Durchbruch zum viktorianischen Nationalkomponisten.

Zur Entstehung der Komposition wurde berichtet, dass Elgar im Oktober 1898, heimgekehrt nach einem langen und ermüdenden Unterrichtstag, unterstützt von einer Zigarre, am Klavier ein Thema improvisierte, was ihm auf dem Heimweg eingefallen sei. Anerkennend fragte die spätere Lady Caroline Alice Elgar (1848—1920), „was das sei“. „Nichts“, kam als Antwort, „aber es könne etwas daraus werden“.

Elgar spielte einige weitere Variationen des Themas und fragte, „wer ist das?“ Worauf die Lady meinte, „so ungefähr verlasse WMB, (der Schwager und Gastwirt William Meath Baker), einen Raum.“

In der Folge entstanden Variationen des Thema-Zufalls, die Persönlichkeitsmerkmale einer eher ungleichen Gruppe enger oder zufälliger Bekannter erfassten.

Elgars Ehefrau, die Schriftstellerin, Sekretärin und Managerin ihres Gatten Caroline Alice „CAE“ erkannte die Bedeutung der Spielerei. Sie ermunterte Elgar, „dass er etwas schaffe, was zuvor noch nie getan worden sei“. Was da so humorvoll begonnen war, wurde in der Folge mit tiefem Ernst zu einem geschlossenen Werk entwickelt.

Was sich eher dem Stile der Portraitierten, als deren Charakterisierung entsprach, wurde entsorgt. So wurden die Variationen zu den Komponisten Arthur Sullivan (1842-1900) und Charles Parry (1848-1918) nicht aufgenommen.

So blieben vierzehn Variationen des Themas, denen irgendwann die Initialen der Portraitierten vorangestellt worden sind. Für dreizehn der Charakterisierten gelten die Zuordnungen zu Personen als gesichert. Lediglich für die Variante XIII „Romanza“ hatte Elgar zwar die wohlhabende Aristokratin und Sponsorin Lady Mary Lygon ins Gespräch gebracht. Es wird aber vermutet, dass die Bezugsperson der Variation die Jugendliebe Elgars Helen Weaver sei, mit der er verlobt gewesen war. 1884 hatte sie ihn verlassen und bei Elgar eine bleibende Verletzung verursacht.

Offenbar wollte sich Elgar mit Johann Sebastian Bach messen, als er seine Enigma mit vierzehn Variationen, wie Bach die Kunst der Fuge mit vierzehn Fugen und die Goldberg-Variationen mit vierzehn Kanons, begrenzt ließ.

Die Lösung des eigentlichen Rätsels der „Enigma-Variationen“ hat der in Chiffren und Kryptogrammen verliebte Elgar mit ins Grab genommen: es „gehe durch und über die gesamte Komposition ein anderes  und größeres Thema, das aber nicht gespielt werde“, so Elgar. Das Hauptthema erscheine nie, „der wichtigste Charakter trete nie auf“.

An dieser teuflischen Äußerung Elgars arbeiteten und arbeiten sich noch immer Musikwissenschaftler ab, liefern unzählige Deutungsversuche, ohne eine gültig-schlüssige Lösung zu bieten. Auch wenn findige Experten in der Sprachmelodie des Namens des Komponisten die Lösung gefunden glauben.

Diese Unklarheit hielt aber die Staatskapelle nicht ab, sich Elgars Variationen mit Freude zu widmen.

Daniel Harding leitete das Orchester als leidenschaftlicher Verfechter der Musik seines Heimatlandes mit Spontanität und ohne philosophische Grübeleien. Vom Beginn an präsentierte er das Thema mit exquisit geformten Streicherklängen, um dann in der Variation III-RBT mit den Bläsern voran zu stürmen. Mit subtilen Tempovariationen und gekonnten Balancen führte er die Musiker von einer Variation zur anderen. Dabei betonte Harding die Soli in den Variationen VI-Ysobel (Andantino) für eine Bratscherin sowie XII-BGN (Andante) für einen Cellisten und entwickelte leichtere, schöne, fast schüchterne Akzente in den Allegretto-Variationen VIII-WN-und X-Intermezzo-Dorabella. Dazwischen war der Adagio-Ohrwurm der Komposition (IX-Nimrod), einer Hommage Elgars an seinen engsten Freund August Johannes Jaeger, eingeordnet. Bei dieser mehrfach auch als Filmmusik eingesetzten Variation entging Harding dank eigener fantasievoller, prägnanter Akzente der Gefahr eines Verkitschens.

Nach den etwas hektischen Stimmungswechseln zwischen den dreizehn kurzen  Variationen brachte das etwas längere Elgar-Selbstportrait (XIV-Finale: EDU) etwas Ruhe in die Darbietung, aber auch etwas Verhaltung in den Konzertschluss.

Begonnen hatte das Konzert mit Benjamin Brittens düsteren vier Meeresbildern „four Sea Interludes“, einer Suite der Bearbeitungen der Zwischenspiele der Oper „Peter Grimes“ von 1944. Dabei bilden die vier Sätze der Suite nicht nur die harte, raue Lebenswelt der Küste und des Meeres ab. Sie übernehmen auch das Grundthema der Oper: das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, die Akzeptanz abweichender Lebensweisen in der Gesellschaft.

Daniel Harding war bei seiner Auslegung der Britten-Komposition bemüht, die Stimmung der Konzertbesucher eher etwas aufzuhellen und griff jedes der Zwischenspiele mit besonderer Lebendigkeit an. Mit schönen Streicherpassagen zeichnete er regelrechte Postkartenmotive der britischen Küsten. Dabei vernachlässigte er keineswegs die vom Komponisten angestrebte Dramatik, als im „Sturm“ die beunruhigten Gedanken des Peter Grimes am Rande des Abgrunds abzugleiten drohen und ein packendes Finale bildeten.

Aber im Zentrum des Konzertes stand die Darbietung des Violakonzertes von William Walton (1902-1983) mit dem Solisten Antoine Tamestit.

Für viele Musikfreunde ist die Viola im Orchester für die Übergangsbereiche zwischen Violinen und Celli eingesetzt und hat vor allem in der Kammermusik ihre Bedeutung.

Wir sind deshalb regelrecht begeistert, dass uns Antoine Tamestit mit seiner wunderbaren Mahler Stradivari als Capell-Virtuos der Saison die Möglichkeiten und Schönheiten seines Instruments in einem breiteren Umfang vermitteln kann. Die 1672 in Cremona von der Werkstatt Antonio Stradivaris (um 1644-1737) gebaute Viola,, gehört zu den klangschönsten Instrumenten seiner Gattung und wurde 2008 von der Stiftung Habisreutingen dem Solisten zur Verfügung gestellt.

In dem vom Dezember 1928 bis zum Frühjahr 1929 entstandenen     „Violakonzert“ sind bereits die neoromantischen Einflüsse in der modernen Tonsprache Waltons zu spüren. Im Jahre 1961 verdünnte der Komponist die Bläserbesetzung des Orchesterparts und fügte eine Harfe hinzu.

Antoine Tamestit spielte das Konzert in einer sympathischen Mischung aus Lyrischem, Kontrastierten und Dissonantem mit einer nahezu unwirklichen Fülle unterschiedlicher Stimmen. Es hatte den Anschein, als schwebe der Solist und sein Instrument über dem Orchester.

Neben dem vertrauten rauchigen Sound der Viola überraschte das Soloinstrument mit tonalen Höhenflügen und fast jazzigen Aspekten. Diese grandiosen Darbietungen unterstützte das Dirigat Daniel Hardings mit ungewöhnlichen Orchesterkombinationen, ohne dabei das Soloinstrument zuzudecken.

Der zweite Satz wirkte dabei dank des stärkeren Blechbläsereinsatzes besonders lebendig, während der Finalsatz eher nachdenklich zu einer in sich gekehrten Schluss-Stimmung geführt war.

Eine faszinierende Zugabe spielte Antoine Tamestid mit der Harfinistin der Staatskapelle Johanna Schellenberger ein Stück nach einem Lied von John Dowland (1563-1626).

Mit diesem Programm hat die Sächsische Staatskapelle für den 21. Januar 2022 ein Gastkonzert in Wien geplant.

Der Mitschnitt des Konzertes wird am 18. Januar 2022 ab 20 Uhr 05 von MDR-Klassik und MDR-Kultur ausgestrahlt.


Thomas Thielemann