12 Mrz 2022


Die weiße Rose

Udo Zimmermanns Kammeroper auf der Studiobühne der Semperoper

Zwei junge Menschen im Wissen, dass in kurzer Zeit ihr Leben enden wird und ihre Persönlichkeit ausgelöscht werde, befanden sich in der extremsten Situation, die man sich als Nichtbetroffener kaum zu denken wagt.

Sophie und Hans Scholl erleiden ihre letzte Lebenszeit in getrennten Haftzellen, waren sich aber über ihre Lebensauffassungen, ihrem Glauben und ihrer Geschwisterliebe aus innigste verbunden, so dass auf der Spielfläche der Studiobühne „Semper zwei“ der Sächsischen Staatstheater die getrennten Räume von Lichtkegeln symbolisiert werden konnten. Ansonsten befanden sich neben zwei Stühlen nur ein angedeuteter Hügel, ein Mauerabschluss im Hintergrund und etwas symbolische Erde auf der kahlen Spielfläche.

Als Ouvertüre erklingt das metallische Knallen des Fallbeils bei der Hinrichtung des dritten Verurteilten, ihres Freundes Christoph Probst, erzeugt mit der besonderen Tonkälte des Nachbaus eines Stahl-Kontrabasses.

Noch das Gekeife des Richters des „Volksgerichtshofs“ Roland Freisler im Ohr, Original-Tondokumente wurden in der Aufführung eingespielt, sangen und spielten die Sopranistin Elisabeth Dopheide und der Bariton Franz Xaver Schlecht in einem beklemmenden Auf und Ab von Emotionen, Texte, die sie vor ihrer Verhaftung gemeinsam gelesen und besprochen haben könnten. Die wechselvollen Gefühle, Poesie, Halbtraum, Utopie, sowie die fließenden Grenzen zwischen Realität und Irrealität wurden dramatisch, fern von jeder Opernkonvention, in einem Schwebezustand zwischen Realismus und Abstraktion, bestechend glaubhaft, bis zur Grenze des Erträglichen dargestellt.

Am Anfang agierten die Geschwister scheinbar noch aneinander vorbei, boten eigene Sichtweisen. Je beängstigter sich die Musik entwickelte, finden Beide den anderen zunehmend als Teil der eigenen Geschichte.

Die Sopranistin Elisabeth Dopheide (*1969), die mit dem überwiegend extrem hoch gesetztem Gesang ihrer radikal dramatischen Rolle stimmlich besonders gefordert war, meisterte die Sophie auch darstellerisch überwältigend. Ihre Panik bei der vermeintlichen Abholung zur Hinrichtung und ihr verzweifeltes „nur einmal noch….“ waren grandios.

Franz Xaver Schlecht vom Ensemble der Oper Leipzig singt und spielt den Hans Scholl mit einem dunklen, kraftvoll-fokussiertem Bariton und ungebrochenem Stimmfluss. Mit seiner Darstellung versuchte er sich zunächst, natürlich vergeblich, aus der Situation herauszudenken, wird dann zunehmend verzweifelter.

Letztlich waren sämtliche der sechszehn Szenen eindringlich, ausdrucksstark und beschwörend, aber nie opernhaft.

Um das Publikum zur Konzentration auf die besondere Dramatik der Situation regelrecht in Haft zu nehmen, war das Orchester hinter der Besucher-Tribüne angeordnet. Der musikalische Leiter der Aufführung Johannes Wulff-Woesten hatte mit seiner Bearbeitung die Zahl der Instrumentalisten der Guiseppe-Sinopoli-Akademie, Corona-bedingt, mit neun begrenzt. Ein faszinierend, wandlungsfähiges Ensemble ließ Holzbläser über wütendem Blech schrillen, Oboen und Geigen weinten. Dazu mischten sich Klavier- und Schlagzeug-Deklamationen sowie bestechende Gitarren und Bassgitarrenklänge; alles mit präziser Intonation geboten.

Die Lichtgestaltung Marco Dietzels war imponierend und die Kostümgestaltung von Véronique Seymat passte.

Für den Regisseur und Bühnenbildner Stephan Grögler war dieses gelungene Dresdner Hausdebüt seine siebte Inszenierung des Opernstoffes Udo Zimmermanns.

Hans und Sophie Scholl waren als Mitglieder der studentischen Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ am 18. Februar 1943 bei einer Flugblattaktion in der Münchner Universität von einem Hausmeister entdeckt und der GESTAPO übergeben worden. In einem Prozess am 22. Februar 1943 werden sie mit ihrem Kommilitonen Christoph Probst zum Tode verurteilt und die Vollstreckung für den gleichen Tag angeordnet.

Als der ostdeutschen Nachkriegsgeneration war in unserem Bewusstsein das Schicksal der Geschwister Scholl besonders verankert, eigentlich ständig präsent. Dabei war regelrecht ausgeblendet, dass es sich bei den Widerstandskämpfern der „Weißen Rose“ nicht um in der Wolle gefärbte, gar kommunistisch orientierte Antifaschisten gehandelt hatte. Uns war nicht bewusst, dass der heranwachsende Hans begeistertes Mitglied der Hitlerjugend mit Führungspositionen im „Deutschen Jungvolk“ und Sophie eine straffe Scharführerin des Bundes Deutscher Mädel gewesen waren. Und dass sich erst dank der Kontakte mit Universitätskreisen, die regimekritische und christlich-ethische Positionen besetzten, sowie des Kriegseinsatzes des Hans ihre weltanschauliche Haltung in den 1940-er Jahren entwickelt hatte, war nie thematisiert worden.

Dass die Flugblattaktion im Lichthof der Universität, die letztlich zur Verhaftung der „Weißen Rose“ führte, ein übermütiger Leichtsinn junger, unkonventionell-lebensfroher Menschen gewesen war, bei dem auch Opiate eine Rolle gespielt haben sollen, war und ist weitgehend unbekannt.

Der Dresdner Komponist Udo Zimmermann (1943-2021) ist vermutlich mit einem vergleichbaren „Geschwister-Scholl-Bild“ aufgewachsen. Während unserer Loschwitzer Zeit haben wir nur reichlich einhundert Meter von Zimmermanns Neubau gewohnt und ihn gelegentlich im Fitness-Studio getroffen. Leider hatte es dabei kaum Kommunikationen gegeben.

Udo Zimmermann begann im Alter von 22 Jahren, sich mit dem Schicksal der Geschwister Scholl musikalisch zu beschäftigen. Mit einem Libretto seines Bruders Ingo Zimmermann (*1940) schuf Udo „ein Stück für Musiktheater in acht Bildern“ für eine Studentenproduktion des Opernstudios der Hochschule für Musik Dresden, die 1967 im kleinen Haus der Staatstheater zur Aufführung kam.

In eine Rahmenhandlung der Geschwister, mit der Erwartung ihrer Hinrichtungen, waren sechs Zwischenspiele mit Reflexionen, wie die Protagonisten zur Widerstandsbewegung gefunden hätten, eingebunden.

Zimmermanns Opern-Erstling erforderte ein mittelgroßes Orchester und etwa 80 Mitwirkende auf der Bühne. Trotz mehrfacher Überarbeitungen blieben auch die Neufassungen flach, konstruiert sowie belehrend, waren von den Gesetzen der Oper nicht zu erfassen und ähnelten eher einer Kantate. Nach neun Inszenierungen und einer Rundfunkfassung im Jahre 1972 verschwand das Werk aus dem Repertoire.

Der Versuch, in den Jahren 1984 und 1985 die Oper noch einmal zu überarbeiten, führte zur Erkenntnis, besser auf die dokumentarisch-erzählende Handlung zur Geschichte der Widerstandsgruppe völlig zu verzichten und die Komposition auf die Grenzsituation der letzten Lebensstunde von Hans und Sophie zu konzentrieren.

Der Dramaturg Wolfgang Willaschek stellte 1986 aus Briefen, Tagebuchaufzeichnungen der Geschwister, sowie Texten von Dietrich Bonhoeffer, Franz Fühmann, Reinhold Schneider, Tadeusz Różewicz und Psalmworte des Alten Testaments das Libretto der Kammeroper „Szenen für zwei Sänger und 15 Instrumentalisten“ zusammen.

Auf der Dresdner Studio-Bühne erlebten wir mit der faszinierend geradlinigen Inszenierung Stephan Gröglers einen beklemmend hochemotionalen Abend.

Ich hatte mit den, für manche Besucher eventuell erlösenden Ovationen, einige Probleme. Bevorzugt wäre ich nach den deklamatorischen Schlussworten still nach Hause gegangen.

Für mich hat sich ob der eigentlich nicht zu überbietenden Situation der Protagonisten jeder Versuch eines aktuellen Bezuges des Lebens und Sterbens der Geschwister Scholl schwierig gestaltet, zumal es gefährliche Nutzungen des Sinnbildes der „Weißen Rose“ für Querdenker, Impfgegner und Rechtspopulisten gibt. Und wenn Björn Höcke 2018 in Chemnitz vor allen Augen mit einer weißen Rose einen „Trauermarsch der Neonazis“ anführte, dann ist doch jedes Maß überzogen.


Thomas Thielemann