Es waren auf den Tag 475 Jahre vergangen, als Christian Thielemann am 22. September 2023 den Taktstock zu Carl Maria von Webers „Jubel-Ouvertüre op. 59“ hob, dass der 27-jährige Kurfürst Moritz von Sachsen (1521-1553) auf Schloss Hartenfels in Torgau den „Urkantor der evangelischen Kirchenmusik“ Johann Walter (1496-1570) mit der Formierung einer „Churfürstlichen Cantorey und Welsche Music und Instrumentalisten“ beauftragt hatte. Die Jahre des Aufenthalts des Kurfürsten in seiner Kindheit an dem kulturell vom Geist der Renaissance erfülltem Hofe seines sinnenfrohen Taufpaten Albrecht von Brandenburg, Kardinal und Erzbischofhof von Magdeburg, hatten ihre Spuren hinterlassen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit drängte auch die junge Kurfürstin Agnes von Hessen (1527-1555) so kurz nach der Intronierung ihres Gatten auf eine Orchestergründung, denn der Kurfürst war kaum zu Hause und brachte die meiste Zeit im Feldlager des „Schmalkaldischen Kriegs“ sowie mit Streitereien mit den Landständen zu. Moritz und Agnes hatten sich als Kinder am Magdeburger Hofe des gemeinsamen Taufpaten Albrecht kennen gelernt und sich bereits derzeit einander versprochen. Gegen elterliche Wiederstände hatte im Jahre 1541 der neunzehnjährige Moritz die vierzehnjährige Agnes geheiratet. Dem Einfluss der Agnes dürfte auch zu verdanken sein, dass neben der Musik der evangelischen Hofkirche auch Tafel- und Kammermusiken zu leisten waren und dass bei der Vergrößerung des Dresdner Schlosses ab 1548 auch renommierte Künstler vor allem aus Italien nach Sachsen einbezogen wurden, so dass der Bau als ein Hauptwerk der Renaissance entstand. Bereits zu dieser Zeit kamen die ersten italienischen Instrumentalisten für die Hofkapelle nach Dresden.
Die Anfangsjahre des Klangkörpers waren nicht stolperfrei. Wegen der Bauarbeiten im Schloss konnten die Musiker erst nach 1550 nach Dresden ziehen und kirchenpolitische Konflikte trübten die Tätigkeit Walters. Deshalb ließ er sich, nachdem er noch 1554 den Neubau der Dresdner Schlosskapelle einweihte, pensionieren, um aus Torgau seinen Landesherren mit Kompositionen zu huldigen. Von Walters Nachfolger, dem franco-flämischen Komponisten Mattheus Le Maistre (um 1505-1577) ist vor allem überliefert, dass er die Kapelle von 21 Musikern auf 45 Instrumentalisten, davon sechs aus „welscher Herkunft“, erweiterte.
Ab dem Jahre 1662 begann in Dresden das Zeitalter der italienischen Oper, in dessen Verlauf sich der bis in die Jetztzeit nachwirkende Charakter und die Spielweise des Orchesters heraus bildeten. Erstaunlicherweise wirkten sich die kriegerischen, dynastisch-politischen Ereignisse und die Konvertierung des Kurfürstenhauses zwar auf die Situation des Klangkörpers aus, stellten aber seine Existenz nie in Frage. Auch wenn sich der Hofkapellmeister Heinrich Schütz (1585-1672) gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) beim Kurfürsten über die „schlimmen Arbeitsbedingungen der Kapelle sowie die elenden Zustände unter ihren Mitgliedern“ beklagte, hatte er die Musiker durch die Wirren des grauenvollen Kriegs nicht nur vergleichsweise ungestört geführt sondern sogar mit ihnen eine für Deutschland neue Art vokaler Tonmalerei kreiert. Selbst nach dem für das Land desaströsen Siebenjährigen Krieg (1756-1763) konnte Kursachsen von seiner ehemaligen Vorrangstellung in der deutschen Kunst mit der „Hof-Capella“ zumindest die Bedeutung in der Musik wahren. Uns noch durchaus bekannte Komponisten reihten sich als Hofkapellmeister oder Konzertmeister, insbesondere in der Zeit, als deren Berufung bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts noch mit Komponier-Verpflichtungen verbunden war, aneinander. Glanzvolle Namen, wie Heinrich Schütz, Johann David Heinichen (1683-1729), Johann Georg Pisendel (1687-1755), Johann Adolph Hasse (1699-1783), Carl Maria von Weber (1786-1826) bis Richard Wagner (1813-1883), sollen hier beispielhaft genannt werden.
Prägend für das Orchester war in der neueren Zeit die Tätigkeit des Hofkapellmeisters Ernst von Schuch (1872-1914), der in seiner Amtszeit ab 1889 mit einer Arbeitsbeziehung und späteren Freundschaft den deutlich jüngeren Richard Strauss (1864-1949) an das Haus band, so dass dieser neun seiner Opern in Dresden uraufführen ließ.
Im Konzert zur 475. Wiederkehr der Orchesterstiftung wurden nur Kompositionen der prägenden Partner des Traditionsklangkörpers der letzten Jahrhunderte geboten.
Wie so vieles verdankt die „Jubel-Ouvertüre op. 59“ des Carl Maria von Weber einer schwer aufzuklärenden Intrige, denn „Seine Majestät“ war da selbst involviert. Der Hofkapellmeister Weber hatte für ein Konzert zum 50-jährigen Jubiläums des Amtsantritts seines Dienstherren Kurfürst Friedrich August III. im Sommer 1818 eine „Jubel-Cantate“ komponiert, war aber fahrlässiger Weise in seiner Sommerfrische Hosterwitz verblieben. Nach Dresden zurückgekehrt musste er feststellen, dass im Festprogramm seine Kantate fehlte, so dass er eine Mitwirkung am Festkonzert verweigerte, was aber für den Hofkapellmeister einfach nicht ging. Graf Heinrich Vitzum hat dann als Webers vorgesetzter Intendant des königlichen Theaters durchgesetzt, dass der Hofkapellmeister, ob seiner Komponier Verpflichtungen zumindest mit einem noch zu realisierenden Konzertstück im Festkonzert zu vertreten sei. In einer Hosterwitzer-Klausur entstand dann Anfang September die eigentlich formaltypische Weber-Ouvertüre, die er mit der trotzig-reich orchestrierten Hymne des Flensburger Aufklärers Heinrich Harris (1762-1802)„Heil dir im Siegerkranz“ ausklingen ließ. Christian Thielemann dirigierte die „Jubelouvertüre“ seines Vorgängers weihevoll und nicht so kämpferisch, wie das wahrscheinlich Carl Maria von Weber am 20. September 1818 bei ihrer Uraufführung tat.
Seine Beschäftigung mit der Tannhäuser-Sage brachte Richard Wagner (1813-1883) im April 1842 aus Paris mit nach Sachsen. Doch die Uraufführungen der Oper „Rienzi“ im Oktober und des „fliegenden Holländers“ im Januar des Folgejahres gaben in seiner ersten Zeit in Dresden wenige Möglichkeiten, die Entwürfe weiter zu treiben. Als der Erfolg der beiden Opern im Februar 1843 eine lebenslange Berufung zum Hofkapellmeister zur Folge hatte und Wagner sich beim „Musikfest der sächsischen Männerchöre“ beteiligte, benötigte er für die Fertigstellung „seiner Kampfansage, seiner Provokation gegenüber der biedermeierlichen kleinsinnigen Kunstpraxis“ bis zum 13. April 1845.
Für Wagner war der Orchesterauftakt die Verflechtung thematischer Materialien, die ein Gefühl für die „Argumentation der folgenden Oper“ vermitteln sollte. Seine Ouvertüre zum „Tannhäuser“ dürfte das treffende Beispiel für diesen Anspruch bieten. Die Ouvertüre begann mit dem Leitmotiv, mit dem die Oper abschließt. Mit brillanter Intonation meisterten Hörner, Klarinetten und Fagotte die Einleitung bis die Blechbläser mit Motiven des Pilgerchores alles überstrahlten. Das Moment der Abwechslung von Anspannung und Auflösung der Opernhandlung wurde mit der Darbietung der Staatskapelle gekonnt verwoben umgesetzt, so dass mit der „Tannhäuser-Ouvertüre“ das Libretto des Gesamtwerkes konzentriert über die Leitmotivation erlebbar war. Alles war zu hören: Aufladung der Sünde, Gewissensleid, dissonant eingestreute Seufzerkaskaden bis zur Erlösung aus der Schuld.
Nachdem das junge Komponistengenie Richard Strauss mit seinem Opern-Erstling „Guntram“ im Jahre 1894 in Weimar keinen rechten Erfolg erzielen konnte, widmete er sich wieder seinen Tondichtungen und ließ sich von den unterschiedlichsten Einflüssen anregen. Bei Friedrich Nietzsche (1841-1900) zog ihm vor allem die Betonung der Freiheit des menschlichen Geistes an. Im „Also sprach Zarathustra“ fand Strauss eine Negierung alles Kleingeistigem, Unfreiem insbesondere der christlichen Dogmatik. Die Tondichtung sollte für ihn ein Befreiungsschlag aus der Enge der kleingeistigen Moralität seines katholischen Umfelds werden und seine Entwicklung zu einem freigeistigen atheistischen Kosmopoliten einleiten. Obwohl das Strauss-Opus 30 im Jahre 1896 nicht von der Sächsischen Staatskapelle uraufgeführt worden war, gehört „Also sprach Zarathustra“ ob seiner Wirkung zu den prägenden Werken des Zusammenwirkens des Komponisten und des Orchesters.
Unsere Kenntnisse um die Person Zarathustras sind absolut ungesichert, auch wenn mutige Forscher seine Lebenszeit auf etwa 630 v.Chr. bis 553 v. Chr. datieren. Seriöse Historiker vermuten den Zeitbereich von vor 3600 bis vor 2600 Jahren. Denkbar, dass Zarathustra aus einer Klausur in den iranischen Bergen auf die persischen Marktplätze gekommen sei, um seine dualistische Religionsform des „Zoroastrismus“ zu verkünden. Nach heutiger Auffassung umfasste seine Lehre einen Weg zur Wahrhaftigkeit durch den „Widerstreit des Guten Denkens, Guten Sprechens und Guten Tuns mit dem Bösen Denken, dem Bösen Reden und dem Bösen Tun“. Friedrich Nietzsches Wissen um den Religionsstifter begrenzte sich auf eine Übersetzung von Johann Friedrich Kleuker (1749-1827) des „Avesta“, einer Schriftensammlung des Zoroastrismus aus dem Zeitbereich des fünften bis zum 13. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Die Schriften, die vorgeblich Zarathustras Lehre beinhalten sollten, hatte der Orientalist Abraham Hyacinthe Anquetil-.Duperron (1731-1805) in der Mitte des 18. Jahrhunderts bei „Parsen“, einer noch heute aktiven Gruppe von Anhängern des Zoroastrismus, aufgefunden. Schon Nietzsche begrenzte sich auf jene Aspekte der Zarathustra-Überlieferungen, die zu seinem philosophischen Weltbild passten. Er kreierte den Übermenschen als Ziel des menschlichen Strebens, als Ersatz Gottes und legte Zarathustra meist expressiv-lyrische Aphorismen über Themen, die den modernen Menschen betreffen in den Mund: Glaube nicht einfach, denke selbst, finde deinen eigenen Weg, folge mir nicht nach. Der Text ist zugleich Philosophie aber auch Poesie und traf den Zeitgeist des Endes des 19. Jahrhunderts. Von Zarathustra religionsstiftenden Wirkungen, sind in der Tondichtung des Richard Strauss nur homöopathischen Konzentrationen zu spüren. Selbst der Komponist konnte sich nach über dreißig Jahren Distanz zur Uraufführung nur noch spöttisch über seinen Versuch, das Gedankengebäude Nietzsches in Töne zu setzen, äußern.
Es bleibt unbenommen, sich bei der von der Orgel, dem Kontrafagott und der großen Trommel unterstützten düsteren Kontrabass-Tremolo beginnenden Symphonischen Dichtung, wenn sich eine Trompetenfanfare in gleißender Helle erhebt, um das gesamte Orchester in einen alles überstrahlenden Jubel münden zu lassen, den Aufbruch des Zarathustra aus seiner Klausur in die Welt vorzustellen, um seine Lehre zu verkünden. Die genialen ersten Takte des Werkes sind tatsächlich so markant, dass sie als Synonym für bahnbrechende Erkenntnis und Offenbarung jederzeit wiedererkennbar sind. Folgerichtig ist ihr erschreckend ausufernder Missbrauch in medialer Nutzung und Werbung offenkundig. Deshalb fand ich es von Christian Thielemann verdienstvoll, dass er zwar den Töneschwall des Beginns genussvoll auskostete, dann aber mehr Augenmerk auf die eigentliche Komposition legte und das Bewusstsein seiner Zuhörer von erst später von Nietzsche abgeleiteten Motivbezeichnungen ablenkte. Für die Staatskapelle war es eine Möglichkeit die Transparenz ihrer Orchestration zu demonstrieren. Die Streicher boten ihren berauschenden Schmelz ohne die Bläser zu überdecken. Christian Thielemann ließ der Virtuosität aller Stimmen breiten Raum, dirigierte weder auffällig langsame noch besonders schnelle Tempi, dabei voller Emotionen und ohne seine berühmten Pausen zu vernachlässigen. Die ästhetische Sanftheit und Spiritualität seiner Interpretation verliehen ihr eine fast requiemhafte Wirkung.
Keine andere Komposition wird mit der Semperoper und der Sächsischen Staatskapelle so intensiv in Verbindung gebracht, wie die 1911 in Dresden uraufgeführte Richard-Strauss-Oper „Der Rosenkavalier“. Die Wahrheiten und die Menschlichkeit des Librettos des Hugo von Hofmannsthal in Verbindung mit der genialen Musik haben bis heute ihre Anziehungskraft behalten. So war schlüssig, dass das Festkonzert mit einer Suite aus der Oper „Der Rosenkavalier“ komplettiert wurde. Zugleich ist „Der Rosenkavalier“ auch mit seiner Hommage an Wien und den Wiener Walzer die für Richard Strauss untypischste Komposition. Kraftvoll leiteten die Hörner die Suite ein und machten deutlich, dass das Orchester mit dem zur Überladung neigenden Strauss-Klang umzugehen wusste. Mit höchster Akribie und Hingabe entlockte Thielemann der Staatskapelle eine Interpretation, die das wilde Durcheinander an amourösen Verwicklungen, peinlichen Verwechslungen und sanften Romanzen auch ohne Worte deutlich gestaltete. Der Dirigent erwies sich als wahrer Meister der dynamischen Abstufungen und orchestralen Schattierungen. Er demonstrierte dieses bei den komprimierten Szenen mit der ineinander verschlungenen Interpretation, wenn kitschig-süße mit üppig berauschenden Komponenten wechselten. Auf höchstem Niveau differenzierte er die Klangstrukturen der sich überlagernden Instrumentalgruppen ohne dabei die Süffigkeit des zuckersüßen Walzerrhythmus und seinen schwelgerischen Pomps zu übertreiben. Thielemann ließ den Musikern Raum zur Entfaltung, sicherte Farbenreichtum und Klangdifferenzierung statt üppiger Fülle. In bewährter Weise gestaltete er die Tempi, sicherte einen schlanken Klang und hielt vorwärtstreibenden Elan und innehaltende Reflexionen in schönem Gleichgewicht, so dass die dramatische Qualität der an lasziver Doppeldeutigkeit reichen Suite zur Wirkung kam. Selbst das komplexe Schlachtengetümmel klang transparent. Höhepunkte traten wieder als solche in Erscheinung, weil sie nicht in Dauerespressivo und überbordender Klangentfaltung ertränkt wurden. Unsentimental und dennoch gewürzt mit der richtigen Portion an Emotionen gelang eine packende elektrisierende Interpretation.
Die Sächsische Staatskapelle bestritt mit ihrem Chefdirigenten das Konzert mit Werken der Komponisten-Heroen des Orchesters der neueren Zeit auf höchstem musikalischem Niveau und gestaltete mit beeindruckenden Leistungen ergreifende und berührende Momente eine Sternstunde.

Autor der Bilder: © Matthias Creutziger

Credits:
Semperoper Dresden-22. September 2023
Sonderkonzert am 475. Gründungstag der Sächsischen Staatskapelle Dresden
Carl Maria von Weber: Jubel-Ouvertüre op. 59
Richard Wagner: Ouvertüre zu „Tannhäuser“
Richard Strauss: Also sprach Zarathustra op. 30
Suite aus der Oper „Der Rosenkavalier“
Dirigent: Christian Thielemann
Sächsische Staatskapelle Dresden