Das Toledo der zwölften Jahrhundertwende war ein Schmelztiegel dreier Glaubensrichtungen. Die Grenzsituation zwischen dem muslemischen südlichen Teil der Iberischen Halbinsel und dem christlich geprägten nördlichen Teil führte zu einer Bevölkerung, die aus muslimischen Mauren, Christen und Juden bestand. Jede dieser Gruppen hatte neben ihren religiösen Grundlagen auch eigene wirtschaftliche und kulturelle Prägungen, die sich mit einem seltsamen Ineinandergreifen mit viel Toleranz dank gegenseitigen Abhängigkeiten gegenseitig beeinflussten. Juden waren in Toledo seit langer Zeit zu Hause. Sie lebten ihren Glauben und bereicherten das intellektuelle und künstlerische Leben. Während der geteilten Herrschaft der Muslime aus Nordafrika im südlichen und der Macht christlicher Könige im nördlichen Teil der Iberischen Halbinsel vermittelten sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten innerhalb von Muslimen und Christen.
Zwischen den Christen und den Muslimen tobte allerdings der vom Papsttum befeuerte Verdrängungskampf um die Machtverschiebung auf der iberischen Halbinsel. Mit der sich von 722 bis 1492 hinziehenden „Reconquista“ wurde die maurische Besiedelung des jetzigen Spaniens im Rahmen von Kreuzzügen äußerst zäh rückgängig gemacht. Eine in der Crónica General des Alfonso el Sabio (1223-1284) historisch gut gesicherte Episode in diesem sporadisch verlaufenden Prozess war das Verhältnis des Königs Alfonso VIII. von Kastilien (1155-1214) mit der Tochter seines jüdischen Ersten Ministers, der Rahel Esra la Fermosa (um 1165-1195). Der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer (1791-1872) erkannte Parallelenzwischen der historischen Überlieferung der problematischen Beziehung der beiden und dem skandalträchtigen Verhältnis des Bayerischen Königs Ludwig I. (1786-1868) mit der irischen Tänzerin Lola Montez (1821-1861). Obwohl die tragische Episode nicht nur Lope de Vegas früher bereits inspirierte, hatte sich Grillparzer im Jahre 1812 schon mit dem Sujet, zunächst ohne den aktuellen Bezug, beschäftigt. Die Münchner Ereignisse von 1846 bis 1847 im Bayerischen Königshaus veranlassten Grillparzer offenbar, zwischen 1848 und 1855 das Trauerspiel „Die Jüdin von Toledo“ zu schreiben. Er hielt aber das Ergebnis seiner Recherchen und Schlussfolgerungen bis zu seinem Tode unter Verschluss, so dass eine Uraufführung seines Werkes erst 1872 möglich wurde. Für die Opernkomposition Detlev Glanerts nutzte der Germanist und Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel gemeinsam mit dem früheren Dramaturgen des Hauses Kai Weßler Grillparzers Arbeit als Leitfaden ihres Librettos:
Die verwaisten Töchter des ehemaligen jüdischen Finanzministers des Königs von Kastilien Rahel und Esther dringen vom Übermut der Jüngeren getrieben in die königlichen Gärten Toledos ein und werden von Alfonso VIII. aufgebracht. Der König hatte sich im Garten eine Pause vom mit Staatsgeschäften verwobenen Bankett seiner Gattin gegönnt. Während der König dem Liebreiz der jungen Rahel verfällt, bestürmt die in den Garten nachdrängende Hofgesellschaft den König, sich und seine Kampftruppe auf eine Schlacht gegen die Toledo belagernden Muslime vorzubereiten. Besonders die Königin Eleonore erkennt im Streit um ein von Rahel abgelegtes Tuch die Gemütslage des Königs und damit die Gefahr für das Land. Alfonso entzieht sich aber der Entscheidung und lädt die Schwestern in sein Landhaus. Selbst die Granden Graf Manrique von Lara und dessen Sohn Don Garceran vermögen ihn mit der Nachricht über den drohenden Kriegsausbruch nicht zu sofortigem Handeln zu bewegen.
Die Truppen der Mauren stehen an den Landesgrenzen und die zwischen dem Kalifen und Alonso vereinbarte Friedenspflicht nähert sich dem Ende. Aber über sieben Monate verbrachte der König in politischer Untätigkeit mit der Rahel im Liebesnest, als die Königin wegen Alfonsos Passivität den Staatsrat einberuft. Eleonore de Castilla (1162-1214) ist immerhin die selbstbewusste Tochter Heinrich II. von England und der legendären Herzogin Eleonore von Aquitanien. Die Königin Eleonore erklärt den Ausnahmezustand und beantragt beim Staatsrat Alfonsos Absetzung. Außerdem bezichtigt der Graf von Lara Manrique die Jüdin der Spionage. Vor allem befürchtet Eleonore, dass eine Schwangerschaft Rahels, ein männlicher Nachkomme der Jüdin, die königliche Nachfolgerschaft ihres kränklichen Sohnes gefährden könnte. Nach einer dramatischen Auseinandersetzung einigten sich die Eheleute über die Machtverteilung: für die Überschreibung der Hinterlassenschaften von Eleonores Erbe, ihrer Liegenschaften samt deren Erträge, erklärt Alonso seine Bereitschaft zum Kriegsbeginn, bestätigt die Tötung der „Spionin Rahel“ und erteilt die Erlaubnis zu einem Judenpogrom. Unsicher bezüglich ihrer Situation, verpassen die Schwestern eine Gelegenheit zur Flucht und werden von den Schergen aufgebracht. Esther kann sich verstecken aber Rahel wird umgebracht. Das Landhaus wird geplündert bis der König erscheint. Angesichts der Leiche Rahels zeigt er noch eine begrenzte und zweifelhafte Gefühlregung.
Der Schluss der Oper folgt der Logik der Entwicklung: In der Kathedrale werden die Waffen gesegnet, während Esther die Schwester betrauert und den König verflucht. Auf dem Schlachtfeld treffen die christlichen Kämpfer auf die muslimischen Krieger, bis alle vernichtet am Boden liegen. Eine Videoinstallation symbolisierte die Auseinandersetzung mit Elementen gegenwärtiger Kriegsführungen und lässt mit dem Bild eines zerstörten Wohngebietes das Ergebnis des Geschehens als Parabel enden..
Die Historie berichtet, dass Alonso VIII. die Schlacht tatsächlich verloren hat.
Hans-Ulrich Treichels Libretto-Handlungsfaden ist deutlich schmaler, als der des als Quelle angegebenen Dramas Franz Grillparzers. Von der komplexen Durchdringung des Sujets in Lion Feuchtwangers gleichnamigen Romans ist hier völlig abzusehen. Dennoch enthält Treichels Operntext deutlich mehr, als eine Darstellung der schwierigen Gestaltung einer Übereinstimmung von politischer Pflichterfüllung mit privatem Glück. Er gibt Einblicke, wie Machtstrukturen funktionieren, wie simpel politische Entscheidungen getroffen werden können und dass Machterhaltung sowie Machterweiterungen emotional geprägte Entscheidungen überdecken. Aber auch, dass ein Interessenausgleich Konflikte beenden könnte, selbst wenn dessen Ergebnisse nicht allen moralischen Ansprüchen genügen mögen. Im vorliegenden Fall befeuerte der Interessenausgleich aber sogar einen Kriegsbeginn, weil außenstehende Kräfte im Machtspiel nicht einbezogen sind.
Dem aufgeschlossenen Opernbesucher bleibt durchaus überlassen, dass in der Semperoper erlebte, auf sein gesellschaftliches Umfeld zu extrapolieren und für sich Denkmuster zu entwickeln. Denn was bei Feuchtwanger mit „gedanklicher Präzision und psychologischer Konsequenz“ ausgeführt, wie Kriege vorbereitet und verloren, wie Wohlstand erarbeitet und vernichtet werden können, ist in der Oper durchaus angelegt.
Für seine Tondichtung der „Die Jüdin von Toledo“ hatte Detlev Glanert eine leidenschaftliche Musiksprache mit einer Instrumentierung für ein klassisches Orchester und einer am Bühnengeschehen orientierte Klanglandschaft entwickelt. Mit einer kraftvollen Schlagwerkausstattung mit zum Teil seltener zu hörender Klangerzeuger wurde einerseits das Primat der christlichen Bevölkerung Toledos durch Glockenklänge hervorgehoben. Andererseits setzte Glanert, um auch dem im Libretto ausgesparten Teil der muslimischen Bevölkerung in der Oper zumindest eine akustische Stimme zu geben, eine im mittelalterlichen vorderen Orient vorherrschende Kurzhalslaute, eine „Oud“ ein. Das sonor eingestimmte Zupf-Instrument wurde von dem aus dem Libanon stammenden Nassib Ahmadieh gespielt. Glanert betrachtete seine Komposition dabei aus einer zeitgenössischen Perspektive, um sie für ein möglichst breit aufgeschlossenes Publikum auch erschließbar zu gestalten. Einem Einsatz elektronischer Klangerzeuger verweigert sich Glanert.
Die Inszenierung der Erstaufführung der Dresdner Auftragskomposition hatte der Kanadier Robert Carsen übernommen. Von ihm stammte auch das Bühnenbild, wie auch die Licht- und Kostümgestaltung. Dabei wurde er von seinen langjährigen Arbeitspartnern Peter Van Praet und Luis F. Carvalho unterstützt.
Die Bühnenbilder wurden von wuchtigen Säulen- und Deckenkonstruktionen dominiert, um auch optisch zu manifestieren, dass es auf der Bühne um Herrschaftsausübung sowie Machterhalt geht. Selbst im Liebesnest dominierten Säulenstrukturen den Raum und demonstrierten, dass Machtstrukturen das Geschehen selbst in den intimsten Situationen unterschwellig beeinflussten.
Um den Zeitbezug der Grundaussage des Opernstoffes auch optisch zum Ausdruck zu bringen, ließ Carsen den Chor und die Solisten in zeitlos-schwarzer Kleidung agieren. Nur der Titelfigur war ein Sommerkleid zugesprochen worden. Eine ideenreiche und sensibel differenzierte Personenregie verband die äußere Handlung mit dem Innenleben der treffend charakterisierten handelnden Personen. Robert Carsen inszenierte die Handlung zwar vor allem realistisch, nahm aber im zweiten Akt eine geniale symbolische Anleihe: im Zeitraffer ließ er die sieben glücklichen Monate des Paares im Liebesnest mit einem Zwischenspiel überbrücken. Hinter den Liebenden pflegten in der Säulenkonstruktion Vertreter der christlichen, jüdischen und muslimischen Stadtgesellschaft friedlichen Umgang, wickelten Geschäfte miteinander ab und „brachen ihr Brot“.
Das überschaubare Solistenensemble spielt seine Rollen mit großem Engagement und bis ins Detail überzeugend.
Die US-Amerikanerin Heidi Stöber entwickelte für die Titel-Heldin ein außerordentlich berührendes Rollenportrait. Sie entfaltete die Persönlichkeit der Rahel mit ihrer markanten lyrischen Stimme eindrucksvoll und erreichte selbst die hohen Töne mit wenig Mühe ohne auf Kosten der Aussprache. Mit ihrer unbeschwerten Darstellung war sie nicht einfach eine erotische Projektionsfläche. Als sie begreifen musste, dass Alonso ihre Beziehung der Staatsraison opfern werde, legte sie in ihrer Stimme eine tiefe Traurigkeit.
Als die auf innere Kontrolle konzentrierte vorsichtigere, warnende und etwas vorausschauende ältere Schwester Esther bestach die Norwegerin Lilly Jørstad. Ihr Mezzosopran strahlte in schlichter, natürlicher Schönheit und zeigte, wie mit geschmeidiger Stimmführung eine phänomenale Ausdrucksstärke sicht- und hörbar werden konnte, wenn ihre Stimme zwischen den höheren und tieferen Lagen wechselte.
Christoph Pohl entwickelte seine Darstellung des Königs Alonso von der Steigerung dessen Emotionen bis zum Verlust deren Kontrolle. Aus der arrangierten Ehe mit Eleonore, einer nicht sonderlich innigen, dem Erhalt der Dynastie sichernden Beziehung, geriet er in eine Phase leidenschaftlicher Sexualität. Sie blieb aber letztlich dank seiner Erziehung und seines konträren Weltbildes unerfüllt, so dass er moralisch versagen musste. Mit seinem dunklen Bariton gab er eine grandiose Vorstellung eines von seinen Gefühlen besessenen Mannes, die er angesichts des drohenden Machtverlustes frei von Skrupeln zur Seite zu verwischen vermag. Seine stimmlich stets kontrollierten emphatischen Ausbrüche blieben immer exzellent phrasiert.
Die Königin Eleonore wurde von der Mezzosopranistin Tanja Ariane Baumgartner zur die Handlung vorantreibenden und die Aussage der Oper bestimmenden Person gestaltet. Ihr historisches Vorbild war geboren und erzogen um zu herrschen. Ihre wichtigste Aufgabe in diesem Kontext, mit dem gebären eines männlichen Nachfolgers den Erhalt der Dynastie zu sichern, war aber ihr schwacher Punkt, denn ihr einziger Sohn ist geistig beeinträchtigt. Die mit ihrem unerbittlich strengen Auftreten und ihrem satten, beinah autoritärem stimmlichen Volumen aufwartende Tanja Ariane Baumgartner zeigte ganz klar, wer die Richtung der weiteren Entwicklung bestimmte. Ohne Gefühlsregung, bar jeder Mütterlichkeit war sie bereit den kranken Sohn als Schachfigur auf den Thron zu setzen, um selbst zu herrschen. Andererseits umgarnte sie voller Sinnlichkeit in der Stimme den Alonso, um so die machtorientierten ehelichen Beziehungen wieder herzustellen. Eine hervorragende Rolleninterpretation, die aber in Carsens zeitgenössischer Inszenierung doch etwas problematisch blieb.
Den widersprüchlichen Part des Grafen von Lara Manrique meisterte Markus Marquardt auf das vortrefflichste. Vom Erzieher und Freund des Königs vermag er alle Emotionen der Staatsraison zu opfern. Seit dem Jahre 2000 dem Ensemble des Hauses verbunden, setzte er seinen reifen wohlklingenden Bassbariton und seine darstellerischen Fähigkeiten mit einer Mischung von Erfahrung und stilsicherer Darstellung ein. Der Tenor Aaron Pegram wirkte als Don Garceran, dem Sohn des Grafen von Lara, als Ausführender dessen Anweisungen jenseits moralischer Überlegungen.
Musikalisch und darstellerisch wirkte in allen Phasen der Sächsische Staatsopernchor auf das Hervorragendste.
Als Grandios erwies sich die musikalische Leitung des im Hause bestens eingeführten Jonathan Darlingtons bei der Umsetzung der Partitur. Was Darlington und die Musiker der Staatskapelle an diesem Abend leisteten war beeindruckend. Die Musiker der Sächsischen Staatskapelle bewältigten die anspruchsvolle Partitur mit gewohnter Präzision und Klangfülle.
Darlington gelang eine Feinjustierung des Taktes, die an jeder Stelle mitriss, das Orchester auflodern ließ, aber stets rücksichtsvolle Dynamik und achtsame Akkuratesse des Chores sicherte und die Solisten nicht überforderte..
Besonders in den Zwischenspielen trieb Darlington die Musiker durch die Partitur, allerdings ohne Virtuosität und differenzierte Interpretation zu vernachlässigen. Vor allem in den leisen Momenten konnte er für Gänsehaut sorgen.
Die brisant-hochpolitische Uraufführung wurde vom Publikum ob der Leistungen des Chores der Solisten, für die Qualität der Inszenierung aber möglicherweise auch wegen ihrer tagespolitischen tragischen Aktualität frenetisch gefeiert.

Thomas Thielemann
Autor des Bildes: © Ludwig Olah.
Credits:
Die Jüdin von Toledo-Oper von Detlev Granert
Uraufführung am 10. Februar 2024 in der Semperoper Dresden
Inszenierung: Robert Carsen
Bühnenbild und Kostüme: Robert Carson und Luis F. Carvalho
Choreografie: Marco Berriel
Choreinstudierung: Jonathan Becker
Musikalische Leitung: Jonathan Darlington
Sächsische Staatskapelle Dresden