2 Feb 2023


Glanzvolle Wiederaufnahme der Decker-Inszenierung “Der Ring des Nibelungen”

Neben einer Zyklus-Aufführung im Premierenjahr der „Götterdämmerung“ 2003 und dem ersten Zyklus 2023 konnten wir die von uns geschätzte Ring-Inszenierung von Willy Decker bereits mehrfach, nur zum Teil als Komplettwerk, mit der Musikalischen Leitung Christian Thielemanns erleben.
Als der Chefdirigent der Semperoper im Zeitraum vom 29. Oktober 2017 bis zum 4. Februar 2018 fünf Aufführungen der Decker-Inszenierung von Richard Wagners „Die Götterdämmerung“ dirigierte, hatten wir zunächst drei der Abende jeweils einmal im Parkett, im ersten Mittelrang sowie im zweiten Seitenrang gebucht, um Sichtmöglichkeiten und vor allem unsere subjektiven Höreindrücke auf unterschiedlichen Plätzen im Semper-Bau zu testen. Im damals aktiven „Wagner-Forum-Festspiele“ erzeugte mein subjektiver Ergebnis-Bericht den üblichen Proteststurm: in der Semperoper seien die besten Hörplätze im vierten Rang. Das war dann Anlass, im Januar dem Klang-Brei daselbst einen Abend zu opfern, um unseren Vorab-Ausschluss des vierten Ranges als gute Hörposition zu bestätigen.
Zu meinen früheren Ring-Erfahrungen gehörten auch Aufführungen in Leipzig, Stuttgart, Budapest, Chemnitz und Köln.
Nun hatte uns Marek Janowski im Herbst des vergangenen Jahres mit dem Orchester der Philharmonie und einem namhaften Sängerensemble im Rahmen einer konzertanten Aufführung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ neben dem Musikgenuss vor allem zu neuen Erkenntnissen bezüglich der Partitur des Komponisten verholfen. Janowski hatte mir musikalische Details der Wagnerschen Komposition erschlossen, die ich bei den mehrfachen Ring-Aufführungen weder gehört habe noch von ihrer Vielfalt etwas ahnte. Besonders beeindruckte mich, dass Richard Wagners Behandlung der Orchester-Partitur bei aller Meisterschaftlichkeit erheblichen „Qualitäts-Schwankungen“ unterlegen gewesen war. Das betrifft insbesondere die Siegfried-Partitur mit den beiden Komponierpausen und die Arbeit an der Götterdämmerung.
Mit der Komposition der „Götterdämmerung“ hatte Richard Wagner die im dritten Aufzug des „Siegfried“ beeindruckende Befreiung des motivischen Materials von der engen Textverknüpfung zwar weitergeführt und die Partitur der „Götterdämmerung“ gegenüber den früher entstandenen Teilen der Tetralogie durch eine größere Dichte der Motivsubstanz und deren musikalische Verarbeitung geprägt. Dennoch erreicht die „Götterdämmerung“ nicht die kompositorische Geschlossenheit des dritten Siegfried-Aufzugs.
Das mag unterschiedliche Gründe haben:
Die Textentwürfe von „Siegfrieds Tod“ waren zur Zeit der Komposition mehr als zwanzig Jahre früher entstanden und standen Wagner 1869 offenbar nicht vollständig zur Verfügung. Auch beließ Wagner die Anklänge der Textskizzen an die „Grand opera“ insbesondere im zweiten Aufzug. Der Chor der Mannen in der zweiten Szene und der Ensemblegesang des Verschwörungs-Terzetts mit seiner Art der Deklamation sind zwar bühnenwirksam, deuten aber auf rückwärtsgerichtete Tendenzen. Offensichtlich spielte auch der Zeitdruck eine Rolle, denn selbst wenn die Arbeit 1874 als „fertig gestellt“ galt, ist an der Partitur der Götterdämmerung bis zur Uraufführung im Festspielhaus gefeilt worden. Möglicherweise vermutete Richard Wagner selbst, dass er im in der Entstehung befindlichen Festspielhaus unter dem „Deckel“ seine Siegfried-Drei-Feinheiten ohnehin seinem Publikum nicht vermitteln könne.
In meinem Hörerlebnis habe ich diese Zusammenhänge nur bei Janowskis konzertantem Ring wiederfinden können. Natürlich ist es legitim, dass man einen solchen Bezug gern erlebt hatte, ist aber letztlich selbst für den fanatischsten Wagner- Verehrer nicht zwingend erforderlich.
Zwischen dem 27. Januar und dem 1. Februar des Jahres 2023 war im Semperbau die Ring-Inszenierung von Willy Decker aus der Zeit des Beginns des Jahrtausends mit der Musikalischen Leitung Christian Thielemanns zu erleben. In ihrer Entstehungszeit dem Regietheater zugeordnet, kommt Deckers philosophische Behandlung des „Ring des Nibelungen“ als großes Welttheater nahezu klassisch daher und gilt für viele konservativen Wagnerianer inzwischen als Meilenstein, während sie die Verfechter des Regietheaters als verstaubt verteufeln. Mit Wolfgang Gussmanns viel diskutierten Stuhlreihen schickte Willy Decker die Rheintöchter, Götter, Nibelungen, Riesen ins Parkett, macht sie wechselnd zu Zuschauern oder Handelnden, zu Betrachtern beziehungsweise Betrachtenden, die aufeinander reagieren. Dabei hatte Decker seine zentrale Idee, den Ring als Welt-Theater szenisch umzusetzen, über alle vier Teile konsequent durchgehalten, ohne sich in feministische Deutungen zu verlieren, so dass die musikalischen Aspekte den Opernzyklus bestimmen konnten.
Beim Besuch das ersten Zyklus der Wiederaufnahme 2023 der Willy-Decker-Inszenierung war mir wichtig, ob meine Empfindungen der konzertanten Aufführung mit den Agierenden auf dem Konzertpodium, von der klassischen Opern-Darbietung mit einem Orchester im Graben und den Sängern in der Szene erneuert werden konnten. Da die Inszenierung bestens bekannt ist, mussten wir uns deshalb nicht mit Deutungen der Abläufe aufhalten und konnten uns der Musik der Staatskapelle, dem Gesang der ausgezeichneten Sänger-Riege sowie den Details der Wagner-Komposition widmen, und vor allem den Vergleich mit den Erinnerungen an die konzertante Aufführung vom vergangenen Herbst wagen.
Bereits einfache physikalische Überlegungen führen zur Erkenntnis, dass aus dem Graben eine der konzertierten Darbietung vergleichbar detaillierte Klangvermittlung nicht möglich sein kann. Im Semperbau führen die Reflektionen der Luftanregungen aus dem Graben an der Raumabdeckung zwar zu einigermaßen vertikal-kontrollierten Schallstreuungen. Die Strukturen der Ränge führen aber durch die Mehrfach-Brechungen zwangsläufig zum Mischklang und damit auch zur Überdeckungen von Einzelheiten. Besondere Feinheiten, scheinbare Nichtigkeiten und damit Wagners letzte in der Partitur versteckte Geheimnisse bleiben unentdeckt. Das war insbesondere beim dritten Aufzug des „Siegfried“ mit seiner, ob der Komponier-Pause zwischen 1865 und 1869 doch etwas anders geartete Musikalität, erkennbar.
Während Marek Janowski mit seiner Genauigkeit im Detail, die straffe Kontrolle der Dynamik mit rigorosen Tempi anstrebte, erzielte Christian Thielemann mit der Sächsischen Staatskapelle zusätzlich eine opulente Auslegung der Partitur. Dazu stand ihm mit den hervorragend aufgestellten Musikern der Dresdner Staatskapelle ein einmalig klangvolles Orchester mit einem warmen, geschlossenen Klangbild zur Verfügung.
Er nahm sich alle Zeit der Welt, setzte souverän seine Pausen und ermöglichte den herausragenden Streichern sich üppig auszubreiten. Den Bläsern verwehrte er konsequent, trotz beachtlicher Soli, die Violinen zu überdecken. Mit emotionaler Tiefe, sensiblem Tempoempfinden wurde das Weben und Verweben entwickelt. Auf eine kleinteilige Detailentwicklung konnte Christian Thielemann verzichten. Was sollte er auch den überwiegenden Wagnerianern im Zuschauerraum seiner Dresdner Zyklen noch beibringen. Sie wollten, und da nehme ich mich nicht aus, in der Musik schwelgen, sich am Gesang berauschen.
Willy Deckers Regie hielt die Sänger bevorzugt im vorderen Bühnenbereich und Wolfgang Gussmanns Bühnengestaltung hielt den Sängern offene Bereiche, so dass schwerelos und textverständlich vom hervorragenden Ensemble gesungen werden konnte. Das sängerfreundliche Dirigat hob und trug die Sänger nach deren Möglichkeiten. In den Besetzungen aller vier Abende fanden wir eine gute Mischung von mit der Inszenierung und dem Haus seit Jahren vertrauten Sängern und solchen, die erstmalig im Decker-Ring tätig waren oder sogar ihr Rollendebüt feierten.
Über die wunderbare Christa Mayer als Fricka sowie als Siegfried-Erda, den sagenhaften Georg Zeppenfeld als Hunding und Rheingold-Fasold, den sensationellen Andreas Schager als Siegmund und Siegfried, den tollen Stephen Milling als Hagen sowie als Siegfried-Fafner, den beachtlichen Karl-Heinz Lehner als Rheingold-Fafner, den erfrischenden Tansel Akzeybek als Froh und den imponierenden Adrian Eröd als Gunther muss ich mich hier nicht zum wiederholten Male ausbreiten. Sie haben sich seit Jahren in der Dresdner-Inszenierung in unsere Erinnerungen gespielt. Auch dass die gefeierte Mezzosopranistin Waltraud Meier ihre berühmte Waltrauden-Interpretation letztmalig in ihrer Bühnenkarriere präsentierte, sei hier gewürdigt.
Für John Lundgren waren der Wotan sowie der Wanderer und für Ricarda Merbeth die Brünnhilde die ersten Einsätze in der Decker Inszenierung. Der schwedische Bassbariton sang mit großer Vitalität, Detailtiefe und stimmlicher Präsenz einen sensationellen Göttervater. Frau Merbeth, die bisher im Hause nur als Senta bekannt war, agierte mit kraftvoller Eleganz, leuchtendem Gesang und prachtvoller darstellerischer Entfaltung. Der Nachhall ihres Schlussgesangs geleitete uns nach dem Abschluss des ersten Zyklus nach Hause.
Ein grandioses Rollendebüt feierte Allison Oakes mit einem bestens gestützten kraftvollen Sopran als Sieglinde. Sie hatte aber auch warme, weiche Töne zu bieten und konnte in den dramatischen Ausbrüchen eine gewisse dagegen Zurückhaltung vermitteln. Der dem Haus intensiver verbundene Markus Marquardt wartete in seinem ersten Einsatz als prachtvoll-vieldimensionierter renommierter Alberich auf. Ansprechende Rollendebüts feierten auch Michal Doron als Rheingold-Erda, Lawson Anderson als Donner sowie Štěpánka Pučálková als Wellgunde und Walküren-Waltraute.
Einen perfekt abgerundeten Mime artikulierte am dritten Abend Jürgen Sacher in seinem Hausdebüt mit der erforderlichen ängstlichen Unterwürfigkeit ohne jede Weinerlichkeit. Mit schlankem Tenor, nüchtern, umtriebig und den Drahtzieher betonend machte Daniel Behle viel Freude mit seiner Loge-Auslegung. Anna Gabler, in Dresden mit ihrem Einsatz in „Cadillac“ bestens bekannt, spielte und sang bei ihrem Einstand mit schöner tragfähiger Stimme eine repräsentative Gutrune. Der Waldvogel, gesungen von der bereits häufiger am Haus Gastierenden Mirella Hagen erfreute mit stimmlichem Glanz.
Sowohl die Rheintöchter, als auch die Walküren und die Nornen waren durchgängig homogen und komfortabel besetzt. Nicht unerwähnt seien auch die „Mannen“ des Dresdner Staatsopernchores.
Die ausverkauften Vorstellungen, die begeisterten und heftigen Ovationen nach jeder Vorstellung, ja bereits nach jedem Aufzug wiesen doch nach, dass weder die Ring-Inszenierung von Willy Decker, noch deren musikalische Interpretation durch Christian Thielemann ihre Bedeutung verloren haben.

Thomas Thielemann