19 Jan 2023


Gespenstersonate in Semper Zwei

Von den über sechzig Dramen des bedeuteten schwedischen Autors August Strindberg (1849-1912) ist die 1906 entstandene scharfsinnige und kluge Gesellschaftsanalyse „Spöksonaten“ sein schrillstes Werk. Als Bewunderer Ludwig van Beethovens ließ sich Strindberg von dessen Sonate d-Moll op. 31 Nr. 2 inspirieren und gab dem Drama eine kammermusikalische Sonatenform.
In den 1980-er Jahren gewann die Berliner Festspiele GmbH den 1936 geborenen Komponisten und Musikwissenschaftler Aribert Reimann, für das Festival eine Kammeroper zu komponieren.
Über die Umstände der Auftragsvergabe konnte ich nur wenige Informationen gewinnen. Auch, ob die Wahl von Strindbergs „Spöksonaten“ vom Komponisten oder vom Auftraggeber ausging, war nicht zu eruieren. Das für mich merkwürdige Verfahren der Auftragsvergabe bleibt rätselhaft, weil Reimanns zwölftönige Methode mit ihrem zersplitterten Klang am Anfang der 1980-er Jahre eigentlich keine wirkliche Avantgarde mehr war. Mit seinem schwer erkrankten Freund Uwe Schendel (1953-1994), dem er nach dessen Tode die Vertonung von sieben Texten für Sopran und Orchester widmete, schuf der Komponist das Libretto in deutscher Sprache.
Mit welcher Situation sind wir konfrontiert: ein adliger Oberst, dessen Frau seit Jahren wie eine Mumie in einem Wandschrank haust, deren schöne, kränkliche Tochter aber ehebrecherisch mit dem Direktor Hummels gezeugt worden war, und die verflossene Verlobte des Direktors treffen im großbürgerlichem Haus des Oberst aufeinander, um gemeinsam zu soupieren. Ein Student, der mit Verstorbenen kommuniziert, erfährt nach einem traumatischen Rettungseinsatz von einem ermordetes Milchmädchen und trifft den Direktor Hummel, den „Alten“. Dieser führt ihn mit dubiosen Absichten in diese Gesellschaft. Der Student Arkenholz beginnt seine Ermittlungen, verliebt sich in die Tochter, scheitert aber.
Im Verlaufe des Essens kommen sukzessive die verborgenen Geheimnisse der Beteiligten ans Licht, öffnen sich deren tiefen Abgründe, so dass das Treffen zu einer schonungslosen Abrechnung für Alle wird. Keiner der Beteiligten kann seine Ziele verwirklichen. Der Mörder wird in den Suizid getrieben.
Mit ihrer Inszenierung zielte Corinna Tetzel auf die durchaus aktuellen Aspekte der literarischen Vorlage und setzte den merkwürdigen Zwitter von Mystizismus und Okkultismus des August Strindberg als psychologisch aufgeladenes Sozialdrama um, arbeitet dabei psychologische Spitzfindigkeiten heraus.
Die Figuren, die sich innerlich fremd sind, erlauben der Regie, zwanglos Distanz zwischen ihnen einzuhalten und das Bühnengeschehen zwischen Grotesk und traumhaft zu belassen. Daraus entwickelte sich eine interessante Personenführung zwischen intensiven Bewegungen und marionettenhaften Gebarungen.
Die Bühne von Judith Adam und Jürgen Fahlbusch wurde von drei übereinander angeordneten kreisrunden Podesten gebildet. Um diese Podeste waren scheinbar anarchisch Abtrennungen, Durchbrüche, Spiegel etc. angeordnet, die zur Schaffung wechselvoller Spielräume gezielt herumgeschoben wurden.
Auf und vor dieser Podest- Anordnung bewegten sich die Sängerinnen, die Sänger und die zum Teil schwer zuzuordnende Komparserie.
Die bei „Semper Zwei“ fehlende Distanz zu den Agierenden bezog die im Halbkreis um diese Podest Anordnung gruppierten Sehenden und Hörenden in das Bühnengeschehen unmittelbar ein, erlaubt ihnen eine individuelle Bewertung der Affären.
Die Kostüme verorteten den Hergang ohnehin in der Gegenwart.
Bei aller Skurrilität zwang uns diese Situation zur Reflexion, ob wir uns näher am Studenten, am Oberst oder gar an den Bediensteten vermuten.
Die Instrumentalisten des Projektorchesters waren hinter dem linken Publikumsbereich angeordnet.
Die aus Korea stammende Yura Yang führte das hinter dem linken Publikumsbereich angeordnete Projektorchester und die neun Solisten sicher durch Reimanns Partitur-Irrgarten. Bei der Umsetzung der kruden Psychologie der Geschichte setzte sie auf die Klangwirkung der Instrumente in extremen Lagen. Wie improvisierend hingeworfene Details wechselten mit den jeder Figur begleitenden Melodielinien.
Mit immer wieder verblüffenden Kombinationen legte sie psychologische Ebenen frei, setzte den Dissonanz-Reichtum der Partitur fesselnd, leidenschaftlich und akribisch um. Dabei gelang es Yura Yang, die Sänger bei den unglaublich schwierigen Passagen so weit als möglich zu unterstützen.
Ein präsentes Sängerensemble gewährleistete den Erfolg des Premierenabends.
Mit einer prachtvollen Stimme und düsterer Durchschlagskraft gestaltete der Amerikaner Andrew Nolen den Intriganten, Verführer und Mörder Direktor Hummel, wenn er sich zum selbsternannten Richter aufspielte. Mit massiv betonten Argumentationen deckte er scheinbar schonungslos die Geheimnisse der Beteiligten auf, bis er sich verhedderte, selbst auf der Anklagebank landet und sein eigenes Ende heraufbeschwört.
Schneidig und stimmlich präsent versuchte Jürgen Müller die Abgründe des Obersts zu verschleiern. Mit einer wohlanständigen Fassade, er trug seine Orden sogar auf der Unterwäsche, versuchte er den Verführer seiner Frau zu vernichten, kommt dabei selbst in Schwierigkeiten.
Die Ehefrau des Obersts, die papageienhaft agierende Mumie, war von Sarah Alexandra Hudarew zu einer beklemmenden Studie gestaltet worden: zwischen dem psychischen Elend der verlebten Frau, dem grotesken Irrsinn der Greisin und der brutalen Erkenntnis eines frustrierten Lebensrückblicks zeichnete sie eine der typischen Frauenfiguren Strindbergs. Trotzdem ermöglichte ihr die Inszenierung die Kraft, ihren ehemaligen Geliebten und Vater der ehebrecherisch entstandenen Tochter zu vernichten.
Einen ernsthaften Aspekt brachte die aus Pulsnitz stammende Jennifer Riedel mit der Gestaltung der bedeutsamsten Frauengestalt des Abends in die Oper. Die Tochter der Mumie und des Direktors Hummel, das Fräulein, bleibt unfähig, sich aus dem unheilvollen Trug ihrer Existenz zu lösen. Sie bleibt ihre Bindung an die Hyazinthen treu und vermag sich nicht zu ihrer Liebe zum Studenten zu bekennen. Mit bezwingend halsbrecherischen Koloraturen, verkörperte sie eindrucksvoll das zerbrechliche Zwischenwesen.
Im Figurenarsenal leisten die Dienerfiguren mit ihren geschwätzig komödiantischen Aufgaben einen Anteil an der Gesellschaftskritik der Aufführung, wenn über sie der Zuhörer jenes erfuhr, was ihre Herrschaften zu verschweigen versuchten.
Aalglatt, schmierig gespielt und gesungen kam der Bedienstete des Oberst Bengtsson von Matthias Henneberg daher, während das Faktotum des Direktors Hummel, als Johansson der Tenor Philipp Nicklaus, undurchschaubarer, unterwürfiger angelegt war, wenn er vergeblich den Studenten Arkenholz vor den Machenschaften seines Dienstherren zu warnen versuchte.
Den Studenten, der in die von Neid, Missgunst, Lug und Trug zusammengekittete Gesellschaft einbrach, hatte Aribert Reimann mit einigen Gesangspassagen ausgestattet, die Grenzen eines Tenors übersteigen. Der aus Hechingen/Hohenzollern stammende Michael Plumm provozierte mit der extremen Höhenlage der Partie des Studenten Arkenholz die Geisterschau. Die Destruktionen der Geistergesellschaft hielt er mit Würde durch und schuf die Voraussetzung für eine Umkehrung der Verhältnisse.

Weitere Hinweise auf Strindbergs Frauenbild boten die Mezzosopranistinnen Milena Juhl als die verflossene Verlobte des Direktors, die allerdings vom Oberst verführt gewesen war, und Eva Maria Summerer in der Rolle der Köchin: die unverheiratete Frau bleibe im Dunklen, während die andere als aufreizende Vampirin, als blutsaugende Mitwisserin der Geheimnisse der Macht als Gegenprinzip des Lebens agiert.
Ungeachtet dessen erlaubte die Regie der dunklen Dame, dass sich Milena Juhl lasziv auf den Studenten stürzte.
Die die unglaublich dichte Aufführung war gleichsam verwirrend wie berührend. Es war nie langweilig. Etwas passierte immer.
Eine starke Leistung des Ensembles dem langer Beifall dankte.


Thomas Thielemann