Wenige Tage nach Halloween haben sich die Landesbühnen Sachsen aufgerafft, ihre für den 12. März 2022 vorbereitete, und aus Corona-Gründen in letzter Minute abgesagte, Premiere der Inszenierung Manuel Schmitts der Oper „Der Vampir“ von Heinrich Marschner, auf die Bühne zu bringen.
Der Komponist Heinrich August Marschner (1795-1861), gebürtig in Zittau, war 1824 in Dresden Musikdirektor geworden. Bereits drei Jahre später zog es ihn nach Leipzig. Hier entstand 1828 mit dem „Vampir“ sein erster großer Opernerfolg. Der britische Leibarzt John Polidor (1795-1821), ein Freund der „Frankenstein-Autorin“ Mary Shelly (1797-1851), hatte die Geschichte vom blutsaugenden Lord entwickelt und damit dem deutschen Dramatiker Heinrich Ludwig Ritter die Vorlage für sein romantisches Schauspiel „Der Vampir oder Die Todten Braut“ geliefert. Der Schwager Maschners, der Schauspieler und Librettist Wilhelm August Wohlbrück (1794-1848), arbeitete dem Komponisten Ritters Schauspiel zu einem wirkungsvollen Libretto um.
Was passierte auf der Bühne:
Lord Ruthwen ist wegen eines Meineids mit dem Teufel im Bunde und muss diesem kurzfristig das Blut dreier junger Frauen übergeben, um selbst weiterzuleben dürfen. Zwei Opfer konnte der Vampir mühelos „austrinken“. Doch die dritte Kandidatin ist Malwina, die Tochter des Lords von Davenant. Für die zeigt Edgar Aubry, ein mittelloser Verwandter der Davenants und Begleiter Ruthwens, Gefühle. Er offenbart der Öffentlichkeit Ruthwens wahre Identität und bricht damit einen Eid, den er Ruthwen hatte leisteten müssen. Malwina ist zwar gerettet und der Vampir fährt zur Hölle. Aber Aubry verliert wegen des seinerseits gebrochenen Eids sein Leben.
Einige Verwicklungen ermöglichten Marschner neben der Ouvertüre zwanzig mit ihrer originellen Instrumentation reizvolle Musiknummern. Tolle Musik war das. Vielleicht das Beste, was Maschner geschrieben hat.
Erzählt wurde in der Inszenierung von Manuel Schmitt vor allem die Geschichte des Außenseiters Ruthwen, seine in das sinnenfrohe Leben einer katholischen Gemeinde eingedrungene Geschichte der unmenschlichen Entmenschlichung.
Manuel Schmitt versuchte die Quadratur des Kreises. Offenbar wollte er die Behäbigkeit der Dramaturgie, den biederen Charakter der Singspielszenen bloßlegen, ohne sie wirklich anzutasten. Schmitt ließ in seiner Inszenierung die Oper traditionell Nummer um Nummer abspulen, waren es doch nie musikalische Szenen im Sinne der italienischen Oper. Es blieben liedhafte Stücke, die trotz ihrer Ausdehnung einen völlig anderen Charakter ins Spiel brachten. Für den wenig vorbereiteten Besucher wurden von Freya Schmidt das Geschehen erläuternde Texte eingesprochen. Verdienstvoll und mutig, dass Schmitt das Wohlbrück-Maschner-Happy-End kassierte und das Finale auf die Aussage der Vorlage Ritters zurückführte. Das für die vier Szenen einzige Bühnenbild Julius Theodor Semmelmanns verortete die Handlung komplett in einen Kirchenraum, so dass sich die Agierenden zwischen den Kirchenbänken, hinter und bei pikanten Szenen sogar auf dem Altar bewegten. Semmelmanns Kostüme orientierten sich am Jahre 1860, charakterisierten aber auch Personen für besondere Aufgaben abweichend. Trotz des Nummern-Korsetts gestaltete eine handwerklich gekonnte Personenführung die Abfolge aufgelockert, so dass die knapp Dreistunden der Aufführungsdauer wie im Fluge vergingen.
Die Musik stand bei dieser Produktion an erster Stelle, wenn die Chöre und Solisten glänzten und der Orchesterklang immer wieder auf Gebiete traumwandlerischer Romantik führte. Dank Ekkehard Klemms temperamentvollen Dirigats und der Lust der Elbphilharmoniker am Spielen war die musikalische Exposition von großartiger Schaurigkeit. Wilde Chromatik brachten die Harmonien ins Rutschen, Synkopen verunsicherten den Takt, in den Ohren schmerzten schrille Piccolo-Läufe. Die Bezüge zu Weber und Wagner öffneten sich, schon weil Ekkehard Klemm die Spannungsbögen in den schier endlosen Ensembles stringent formte und die Elblandphilharmoniker das auch umsetzten. Auch wenn Heinrich Marschners Tonsprache mit der Richard Wagner kaum zu vergleichen ist, versuchte Klemm sie nicht hochzustilisieren. Aber er lotete bereits im Vorspiel die hohe Dramatik, als eine Art musikalisches Wechselbad der Gefühle zwischen inniger Empfindung und krasser Urgewalt aus.
Der von Karl Bernewitz glänzend vorbereitete verstärkte Chor der Landesbühnen Sachsen agierte teils kommentierend oder war aktiv in die Handlung einbezogen. Die Feierfröhlichkeit des Chores ist unbedingt zu preisen, wenn er seine Aufforderungen zum Tanz so direkt ins Publikum schleuderte.
Gesungen wurde auf einem erstaunlich hohem Niveau, zumal die größeren Rollen ausschließlich im Hausensemble verankerte Künstler meisterten.
Der zierliche, aber durchaus drahtig wirkende Paul Gukhoe Song sang und spielte den Lord Ruthwen zunächst heroisch, geschmeidig und sexy, vor allem wenn er sich in einer großen Arie genüsslich ausmalt, wie er seine spitzen Zähne in den Hals der jungen Frauen versenkt. Seine Monologe machten jedoch im Verlauf die Verzweiflung der Titelfigur, ihre Angst vor dem endgültigen Ende deutlich. Die Doppelbödigkeit der Hauptfigur, die den Vampir antrieb, brachte Paul Gukhoe Song mi kraftvoller Bühnenpräsenz zum Tragen, indem er seinen Bariton durchaus lyrisch einfärben, als auch mit großer Härte ertönen lassen konnte. So brachte er einen Charakter zwischen subtiler Emotion und unmenschlicher Brutalität auf die Bühne.
Dagegen wirkte sein guter Widerpart Edgar Aubry, von Aljaž Vesel mit leidenschaftlichem Tenor und einnehmender Ausstrahlung dargeboten und in seinen Gewissensnöten samt seiner Verliebtheit, durchaus schlüssig, eher unbeschwert. Erst in der Schlussphase entwickelte Vesel seinen Aubry zur die Entwicklung bestimmenden Kraft. Wissend, dass die Entlarvung des Vampirs einen Eidbruch bedeutete und auch sein diesseitiges Ende zur Folge haben musste. Aber nachdem der Lord von Davenaut die Verheiratung seiner geliebten Malwina mit dem Vampir-Ruthwen durchgesetzt hatte, war ihm ohnehin jeder Freiheitsgrad genommen.
Als erstes Opfer lief dem Vampir die schwärmerische Janthe, von Anna Erxleben mit ihrer gesamten Naivität und Verliebtheit sichtbar und überzeugend gestaltet, in die Arme. Ihr Vater, der von Michael König dargebotene noble Sir Berkley, konnte seine Verzweiflung nur mit Unterstützung des Chores auf der Bühne ausbreiten.
Der Sopranistin Stephanie Krone als zweiten „Braut“ Emmy gelang ein beeindruckender Ruhepunkt der Aufführung, als sie mit ihrer großen Solo-Romanze vom „bleichen Mann“ den Raum in Wärme hüllte, um dann doch in die Falle zu laufen. Mit einer schönen Ausstrahlung konnte Dániel Foki als Vater des zweiten Opfers Emmy und Verwalter des Lord Davenauts aufwarten.
Die Koloratursopranistin des Hauses Franziska Abram bewältigte die dem Biss entrinnende Tochter des Lords von Davenaut Malwida mit hellen und höhensicheren Koloraturen. Burschikos in ihrem Reitkostüm schien sie ihr Umfeld um den Finger zu wickeln. Erst als sie sich plötzlich im Brautkleid der Borniertheit ihres Vaters ausgeliefert sah, glaubte sie, mit „es lehrt, dass Schlimmeres keinem passiere, der Gott im Herzen trage“ unbeschadet davon zukommen. Hochdramatisch passte Franziska Abram ihren Sopran dieser Passage an.
Ihr Vater, der Sir Huphrey , Lord von Davenaut wurde von den Bassisten Do-Heon Kim mit seiner Sturheit und Arroganz stimmstark und darstellerisch im Habitus angemessen, auf die Bühne gebracht.
Immer wieder fielen einzelne Sänger mit beeindruckenden Leistungen, wie der Tenor Florian Neubauer mit seiner Allgegenwart oder die resolute Anna Maria Schmidt, auf. Auch sollte man den Chor-Bassisten Stefan Glause, den Priester Hans-Udo Voglers sowie die Ministranten Leonardo Abram und Lua Song nicht vergessen.
Dann ist noch über ein retardierendes Kabinett-Stück zu berichten: bevor die Besucher in das Ende der Vorstellung geschleudert wurden. Es tauchte in den Kirchenbänken ein stark angetrunkenes Quintett, die Herren Blunt alias Michael König, Green alias Fred Bonitz, Scrop alias Johannes Wohlrab und Gadshill alias Kay Frenzel mit der sturzbetrunkenen Gattin Sue Blunt alias Ylva Gruen auf und gaben „ihrem Affen ordentlich Zucker“, um auch die Erschöpften für die Dramatik des Finales fit zu machen.
Das Publikum spendete begeisterten, üppigen Applaus für die gebotenen Leistungen und feierte das Inszenierungsteam.
Über die Lebensfähigkeit oder gar Dringlichkeit des musikhistorisch durchaus wesentlichen Stück wäre noch zu befinden. Nüchtern betrachtet, erlebten wir am Premierenabend in den Landesbühnen Sachsen ein Bindeglied nicht nur zwischen Webers Freischütz und Wagners „Holländer“, sondern auch eine Brücke zwischen Beethovens dramatischer Strenge der Klassik zu einer motivistisch-thematischen Profilierung der Romantik. Die Titelfigur war eine Mischung von Don Giovanni, Kaspar, Pizarro und Holländer. Und Emmys Romanze vom „bleichen Mann“ befand sich stilistisch auf einer fast absurd direkten Linie zwischen dem Ännchen des Freischütz und der Ballade der Senta in Wagners „Holländer“.
Thomas Thielemann
Autor des Bildes: © René Jungnickel
Credits:
Landesbühnen Sachsen, Radebeul- Premiere am 4. November 2023
„Der Vampir“- Heinrich Marschner
Inszenierung: Manuel Schmitt
Ausstattung: Julius Semmelmann
Dramaturgie: Gisela Zürner
Choreinstudierung: Karl Bernewitz
Musikalische Leitung: Ekkehard Klemm
Elbland-Philharmonie Sachsen