Der sich als russisch-sowjetischer Komponist bekennende Reinhold Glièr (1875-1956) entstammte einer im Vogtländischen Klingental-Untersachsenberg ansässischen Blechbläsermacher Dynastie „Glier“. Sein Vater Ernst Moritz Glier (1834-1896) war 1854 nach Russland übersiedelt und hatte mit seinem späteren Schwiegervater Vincenz Kortschak eine Musikinstrumentenfertigung betrieben. Im Jahre 1900 russifizierte die Familie ihren Namen in „Глиэр“, was bei der Transliteration ins Lateinische zu „Glière“ führte, also keinen Hinweis auf eine französische oder belgische Abkunft darstellt.
Gegen Ende seiner musikalischen Ausbildung in Kiew, Moskau sowie in Berlin begann Reinhold mit dem Komponieren von Kammermusik und Symphonien. Seine Musik war auf Anhieb erfolgreich. Seine Virtuosität sowie die Beherrschung der Möglichkeiten der Komposition und des musikalischen Ausdrucks wurden besonders gelobt. Sein Wissen um die Potentiale der Instrumente, die Nutzung deren Resonanz sowie seine Meisterschaft der Formen führten zu erstaunlich reichhaltigen Kammermusikwerken.
Nach den Wirrnissen der Revolution kümmerte er sich intensiv um das Volkstum der Sowjetrepubliken und sammelte russische, ukrainische, usbekische und aserbaidschanische Folklore. Dabei streifte er seine deutsche Herkunft regelrecht ab, konnte eine musikgenetische Abkunft von böhmischen Musikanten aber nie verbergen. Mit der konventionellen breit fließenden Melodik, der farbigen Harmonik und dem hellen Orchesterkolorit fand seine Musik Anklang bei der sowjetischen Kulturpolitik. Auch sei Engagement im Komponistenverband ermöglichte ihm ein ungestörtes umfangreiches Schaffen ohne Repressionen, so dass er zum „Hofkomponisten“ stilisiert wurde. Für mich zweifelhaft, ob die in seinem Werkverzeichnis mit „Jubeltiteln“ zu allen möglichen politischen Anlässen aufgeführten Kompositionen tatsächlich Auftragswerke waren, oder ob Reinhold Glière bei Bedarf lediglich in die Fülle seiner Entwürfe gegriffen hat.
Unser „Schönewolf-Konzertbuch“ aus den 1950-er Jahren widmete Glière lediglich zwei Seiten, obwohl der russischen und sowjetischen Musik ansonsten ein breiter Raum gegeben war. Neben seiner „Ilja Muromez“- Symphonie Nr. 3 ist mir in meinem musikalischen Gedächtnis lediglich seine Konzertouvertüre „Freundschaft der Völker op. 79“ aus dem Jahre 1941 in Erinnerung, die damals allerdings bei Estradenkonzerten hoch und runter gespielt worden war. Als ich bei YouTube nach Einspielungen von Glière-Musik suchte, gab es zunächst nur wenige Angebote. Aber auf meine Hartnäckigkeit purzelten derartig viele Einspielungen, dass ich an meinem Überblick der gegenwärtigen Musikwelt zu zweifeln begann.
Gliéres „Streichsextett Nr. 3 op. 11“ komponierte er im Jahre 1905, als seine Musik auch bereits in Deutschland erfolgreich konzertiert wurde. Sechs international erfolgreiche Musiker hatten sich am 15. August 2023 mit ihren wunderbaren Instrumenten für ein Konzert in der Kirche Moritzburg zum Spiel des Streichsextetts zusammengefunden.
Aus den Vereinigten Staaten war der Geiger Paul Huang mit jener Violine des Jahres 1742 aus der Werkstatt des Giuseppe Guarneri del Gesú (1698-1744) gekommen, die in früheren Jahren der Virtuose Henryk Wieniawski gespielt hatte. Ihm zur Seite stand als zweiter Violinist der US-Amerikaner Kevin Zhu, der die Violine aus der Stradivariwerkstatt des Jahres 1722 „Ex-Lord Wandsworth“spielte, bis er das Instrument gegen die 35-Jahre verschwundene legendäre „Ex-Ames/Totenberg“-Stradivari aus dem Jahre 1734 tauschte. Die Viola-Partien wurden von Ulrich Eichenauer, der in Dresden als Solo-Bratscher der Philharmonie tätig war, und von Matthew Lipmann gespielt, wobei der US-Amerikaner eine Bratsche aus der Venezianischen Werkstatt des Matteo Goffriller (1659-1742) von 1700 zum Einsatz brachte. Der aus Rumänien stammende Cellist Andrei Ioniţă ist uns als der Preisträger des Tschaikowski-Wettbewerbs 2015 seit dem Kissinger Sommer 2016 und seiner Intendanz der Schwarzenberger Alpenarte auch persönlich bekannt. Mit seinem Violoncello des Jahres 1671 aus der Brescienser Werkstatt von Giovanni Battista Rogeri (um 1642-1710) ist Andrei weltweit als Solist unterwegs. Die aus Norwegen stammende Sandra Lied Haga komplettierte mit ihrem Cello aus der Werkstatt des Joannes Florenus Guidantus (1687-1760) aus dem Jahre 1730 das Sextett.
Die Musiker verstanden es, Glières Fülle kraftvoller musikalischer Ideen auf das Eindrucksvollste darzubieten. so dass die Intensität der Interpretation der sechs Virtuosen nahezu Orchestercharakter erreichte. Die lockeren Themen des eröffnenden Allegro schöpften mit ihren reichen Klangfarben aus der russischen Volksmusik. Mit dem lyrisch-elegischem Larghetto erreichten die Streicher mit ihrem hochemotionalen Spiel einem der menschlichen Stimme nahekommenden Duktus. Mit dem anschließenden Allegro-Intermezzo überschütteten uns die glänzend aufgelegten Musiker mit einer unverkennbar russischen Flut von Melodien, die dann in einer beeindruckenden Steigerungswelle vom Allegro vivace zum Abschluss gebracht wurden.
Mit frenetischem Beifall dankten die Zuhörer für die packende Darbietung des für die meisten Anwesenden kaum bekannten Werkes.
Das Sextett Glièrs war, stilistisch nicht besonders passend, von „Präludien und Fugen“ aus Johann Sebastian Bachs (1685-1750) „Das wohltemperierte Klavier“ eingeleitet worden. Möglicherweise Gelegenheits- und Übungskompositionen, hatte Bach im Jahre 1722 Präludien und Fugen in allen 24 Dur- und Moll-Tonarten „ zum Nutzen der lernwilligen musikalischen Jugend und insbesondere zum Zeitvertreib derjenigen, die bereits in der Studie erfahren sind“ „für Solo-Clavier“ zusammengestellt. Bach bündelte unter dem Clavier-Begriff unterschiedlich entwickelte Tasteninstrumente, ohne dabei die Orgel auszuschließen. Dem folgte zwanzig Jahre später ein „Zweyter Teil“.
Kevi Zhu, Ulrich Eichenauer brachte mit dem dänisch-schwedischen Cellisten Andreas Brantelid die „Präludien mit Fuge „ BWV 854 E-Dur; BWV 873 C-Moll und BWV 881 f-Moll in Bearbeitungen für Streicher zu Gehör. Brantelids Instrument, 1707 bei Stradivari gefertigt, hat wahrscheinlich dem Komponisten Gaetano Boni (1686-1741) gehört, bis es zum Cellisten Friedrich Hegar (1841-1927) gelangt war.
Die Musik Robert Schumanns im dritten Konzert-Teil war uns schon ob seiner Verbindung zu Leipzig und Dresden näher, und auch geläufiger.
Schumann (1810-1856) beschäftigte sich erst mit 32 Jahren ernsthaft mit der Komposition von Kammermusik. Ursprünglich komponierte er fast ausschließlich für das Klavier, wandte sich dann der Vertonung zahlreicher Dichtungen zu und schrieb 138 Lieder, um 1841 seine erste B-Dur Symphonie fertigzustellen.
Im folgenden Jahr begann seine intensive Beschäftigung mit der Kammermusik. Entsprechend seinem Naturell entstanden innerhalb kurzer Zeit drei Streichquartette op. 41, im Spätsommer das Klavierquartett op. 47 und „unser“ Klavierquintett op. 44. Dabei immer von der ängstlichen Erwartung begleitet, ob seine Arbeiten einem Vergleich mit Mendelssohns oder gar Beethovens Kompositionen standhalten könnten. Ob er überhaupt sein Potential als Erneuerer erkannte, können wir lediglich aus Äußerungen seiner Frau Clara vermuten.
Schumanns nervöse Unruhe, sein Drängen war mit einer beklemmenden Intensität bei der Darbietung im Moritzburger Konzert durchaus zu spüren.
Der für Schumann so kennzeichnende Kontrast zwischen opulentem Ausdehnen und Melancholie auf der einen und schroffer Melodik auf der anderen Seite war einfach nicht zu unterdrücken. Das reizten die Musiker auch stilsicher aus. Sie strichen die Melodien ganz dicht und füllten die Räume zwischen den Tönen mit ihren frischen Klängen
Die Akzente in den raschen Sätzen waren auffallend spitz und geschärft gespielt. Die gelegentlich aufblitzende Volkstümlichkeit in der Komposition nahm der Darbietung ein wenig die Steifheit.
Das Quartett und sein Pianist, der 1979 in Helsinki geborene Antti Aleksi Siirala, hatten es gerade darauf abgesehen, dass man sich mit dem Stück auseinandersetzte und verleiteten zum Mitdenken und Nachhören.
Jeder der Streicher vermag mit seinem Instrument seinen Beitrag zur Gesamtwirkung beizutragen. Den ersten Violinpart spielte der aus Florida stammende hochtalentierte Chad Hoopes auf einer Replik-Geige von Samuel Zygmuntowicz. Der New Yorker Geigenbauer hatte das Instrument, für die Sammlung des Isaak Stern (1920-2001) wahrscheinlich nach der berühmten Guarneri „Ex Ysaÿe (Cozio 40064)“ aus dem Jahre 1740 angefertigt. Chad Hoopes ist zur Meinung gelangt, dass dieser Nachbau seinen Anforderungen näher kommt, als jede ihm verfügbare „alte Italienerin“. Den zweiten Violinenpart spielte die amerikanische Geigerin Stella Chen, der als ersten Preisträgerin des Königin-Elisabeth-Wettbewerbs 2019 jene Stradivarius aus dem Jahre 1708 zur Verfügung gestellt worden ist, die in den 1880-er Jahren von dem britischen Astronomen Sir William Huggins etwa 30 Jahre in einem Tressor aufbewahrt worden war und danach, nahezu unspielbar, erst wieder zum Klangleben erweckt werden musste. Der Senior des Quintetts war der häufig als “Meistermusiker“ bezeichnete 1962 in Los Angeles geborene Bratscher Paul Neubauer, der auch über eine ausgeprägte solistische Tätigkeit verfügte.
Der 23-jährige in Amerika in einer bulgarisch-chinesischen Familie aufgewachsene Zlatomir Fung spielte ein Violoncello aus dem Jahre 1717 aus der Werkstatt des Begründers der römischen Geigenbauer-Tradition David Tecchler ( um 1666-etwa 1747). Fung war der jüngste Gewinner des Tschaikowski-Wettbewerbs für Cellisten gewesen.
Das Zusammenspiel der fünf Musiker war vorbildlich. Da war jede uns bekannte Note beachtet und nichts verschleppt worden. Ihr Spiel war dynamisch aber nicht gewaltig und man hörte, was man hören sollte Nichts drängt zu symphonischer Dichte, alles blieb filigran kammermusikalisch. Chancen für großes Solo gab es nicht. Schumanns spätere Verachtung des Virtuosentums schimmert bereits durch. Die Interpretation fesselte, sie hatte Seele, Herz und Biss, vor allem das richtige Temperament.
Die Häufung ausgezeichneter Streichinstrumente, die wir im Konzert hören durften, hatte in mir den Wunsch geweckt, derartige Ergebnisse der Instrumentenmacher-Handwerkskunst auch einmal in ihrer Individualität hören zu können.
Im Jahre 1963 hatte der italienisch-amerikanische Geiger Ruggerie Ricci (1918-2012) in einer LP-Einspielung „The Glory of Cremona“ 15 Violinen aus den Cremonaer Werkstätten von Andrea Amati (um 1505-1577), Gasparo da Salo (1540-1609), Nicola Amati (1596-1684), Antonio Stradivari (1648-1737), Carlo Bergonzi (1683-1747) und Guiseppe Guarneri del Gesù (1698-1744) mit Tonbeispielen, die er für die jeweiligen Instrumente für besonders geeignet hielt, vereinigt. Diese Besonderheit ergänzte Rucci mit kurzen Solo-Anspielungen des 1. Violinkonzertes von Max Bruch.
So etwas im kleinen Umfang wäre doch eine Besonderheit für die Moritzburger Musikfestspiele.
Wegen einer Unwetterwarnung war das Konzert von der Nordterrasse des Schlosses in die aber durchaus den akustischen Anforderungen entsprechende Moritzburger Kirche verlegt worden.

Thomas Thielemann