Der renommierteste Wiener Musikkritiker der 1900-er Jahre Julius Leopold Korngold (1860-1945) war ein fanatischer und erbitterter Gegner der “Wiener Schule“ sowie aller Tendenzen der „Neuen Musik“. Andererseits war er auch der Vater des komponierenden Wunderkindes Erich Wolfgang Korngold (1897-1957). Für das Musikgenie war diese Konstellation eher ein Fluch statt ein Segen, denn er musste sich als Gegenfigur zur musikalischen Avantgarde seiner Zeit inszenieren lassen und die Einmischung des Vaters in seine Arbeit akzeptieren. Mit einem für den gerade Zwanzigjährigen gestalteten Opernlibretto wollte Julius Korngold das Talent seines Sohnes für seinen Kampf gegen die „Atonale Götzendämmerung“ in Stellung bringen. Umso erstaunlicher ist das Ergebnis zu schätzen, welches der Opernwelt aus diesen Umständen geschenkt worden ist.
Als Sujet nutzte der im Zuge einer gedeckten Truppenführung unter dem Pseudonym „Paul Schott“ Schreibende eine Bearbeitung der Erzählung des symbolistischen Romanciers Georges Rodenbach (1855-1898) „Bruges la Morte“. Die „tote Stadt“ stand für das flämische Brügge, das einst blühende Handelsstadt, wegen der Versandung seines Hafens von der Welt abgeschnitten war und sich deshalb mit der Aufarbeitung seiner Vergangenheit beschäftigte. Julius Korngold sah das Wien der Jahre nach dem ersten Weltkrieg in vergleichbarer Lage: eine morbide Atmosphäre vermischt mit damaligen Strömungen der aufkommenden Psychoanalyse, der Traumdeutungen des Unterbewusstseins und der aus heutiger Sicht abstrusen Theorie, dass Frauen zu intellektuellen Leistungen unfähig seien.
Ob der Vater Einfluss auf die kompositorische Arbeit des Sohnes genommen hat ist nicht bekannt. Erich Wolfgang Korngold hat eine von seinem Lehrer Alexander von Zemlinsky beeinflusste, letztlich aber eigene spätromantische Musiksprache entwickelt, die aber weder Richard Wagners Chromatik noch dessen Leitmotiv-Technik verleugnete. Auch Einflüsse des Verismo der Puccini-Gruppe, als auch die Wirkung der Orchestrierungstechnik des Richard Strauss sind zu spüren. Er selbst sah sich als Vertreter der modernen Klassik.
Offenbar hatten die Korngolds einen Nerv der Zeit getroffen, denn die Partitur wurde auf Anhieb von zwei Opernhäusern für eine Uraufführung angenommen. Am gleichen Tage, dem 4. Dezember 1920, wurde „Die tote Stadt“ im Stadttheater Hamburg sowie vom Stadttheater Köln uraufgeführt. In den folgenden Jahrzehnten wurde weltweit von achtzig unterschiedlichen Einstudierungen berichtet. Wegen der jüdischen Herkunft Korngolds verschwand das Werk im Jahre 1933 aus den deutschen, und seit 1938 aus den österreichischen Opernhäusern. Nach seiner Emigration verdingte sich Korngold in den Vereinigten Staaten von Amerika vor allem als Komponist von musikalischen Begleitungen von Hollywood-Filmen. Dabei hat er mit diesem „Broterwerb“ wesentliche Voraussetzungen zur Etablierung der symphonischen Filmmusik als inzwischen eigenständig etablierte Kunstform geschaffen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs versuchte er sich wieder ganz der „ernsten Musik“ zu widmen und sich von der Filmmusik zu lösen. Der Versuch einer Rückkehr nach Österreich geriet trotz der Unterstützung Wilhelm Furtwänglers zur Enttäuschung, so dass er desillusioniert in die USA zurückkehrte. Bis zu seinem Tode bewegte sich seine kompositorische Arbeit zwischen „Broterwerb“ und einer Franklin D. Roosevelt gewidmeten Fis-Dur-Orchestersymphonie op. 40“.
Auch hatte es seine erfolgreichste Oper nach dem Ende der faschistischen Kulturbarbarei schwer, sich wieder im deutschen Sprachraum zu etablieren. In meinem „Opernbuch“ aus dem Jahre 1958 von Peter Cerny fehlt noch seine Erwähnung.
Auch für uns hatte „Die tote Stadt“ erst mit David Böschs Dresdner Inszenierung von 2017 Bedeutung erlangt. Uns hatte in der ersten besuchten Aufführung vor allem die musikalische Leitung des damaligen Hausdebütanten Dmitri Jurowski und die Leistungen der Chöre und des Orchesters begeistert, so dass wir uns erst in der folgenden Aufführung auf das Bühnengeschehen konzentrierten. Über die düstere Mystik, die prickelnde Melancholie der zwischen Traum und Wirklichkeit wechselnden etwas morbiden Inszenierung David Böschs mit dem impressionistischen Bühnenbild von Patrick Bannwart ist damals viel geschrieben worden. Uns hatte damals die Inszenierung wenig angerührt. Lebten wir doch am Beginn des Jahres 2018 trotz Auswirkungen von Finanz- und Flüchtlingskrise unter weitgehend stabilen gesellschaftlichen -und wirtschaftlichen Umständen. Wir hatten eine als Naturwissenschaftlerin denkende Bundeskanzlerin, die, bei allen Fehlern die passierten, ihre Entscheidungen offensichtlich frei von ideologischen Zwängen, vom Ende her überlegt, traf, so dass uns die Düsternis der Auslegung des einhundert Jahre alten Stoffes nicht sonderlich berührte.
Etwas verwundert hatte uns beim Erstbesuch der nur höfliche Beifall des ausgedünnten Parketts am Ende der Vorstellung. Vor unserem Zweitbesuch hatte sich offenbar bei den Operntouristen herumgesprochen, dass in der Semperoper Besonderes zu erleben sei. Deshalb war es schon für uns aufwendiger, gute Plätze zu bekommen und es wurde heftiger applaudiert.

Inzwischen befinden sich die geopolitischen und wirtschaftlichen Umstände in der Welt in einem drastischen Umbruch. Die Auswirkungen auf die Wirtschaft und Gesellschaft des Landes sind gravierend. Als Angehörige der Generation, die einen gesellschaftlichen Umbruch bereits durchlebte, und im Wissen der historischen Hintergründe der Oper Korngolds, hatte uns die hervorragende zehnte Vorstellung der Wiederaufnahme von David Böschs doch etwas morbiden Auslegung des Opernstoffes an die Grenzen unserer Erträglichkeit gebracht. Auch sind wir inzwischen sechs Jahre älter und vor allem nicht gesünder geworden.
In der Wiederaufnahme der Dösch-Inszenierung sang nun Klaus Florian Vogt den Paul. Vogt, für meine Gattin eigentlich der Inbegriff des Lohengrin-Darstellers, begeisterte mir seiner stimmlichen und darstellerischen Interpretation. Die noch immer helle Färbung seiner Stimme hat Substanz gewonnen, was sie ausdrucksvoller und variabler klingen ließ. Mühelos nahm Vogt die Höhen, bot die Ausbrüche im Forte kraftvoll nicht ohne im Piani wundervoll zart seine Möglichkeiten auszuspielen. Mit seinen einfühlsamen und äußerst gefühlvollen szenischen Darstellungen schien tatsächlich ein Einblick in Pauls aus den Fugen geratenen Seelenleben möglich zu werden.
Pauls Muse Marie/ Marietta war von der litauischen Sopranistin Vida Miknevičiütė kühl, präzise und mit entwaffnender Aufrichtigkeit auf die Bühne gebracht worden. Die zierliche Sängerin bot eine überragende Bühnenpräsenz und wartete mit einem ausdrucksstarken, facettenreich-klaren Sopran nebst einer durchschlagsstarken Mittelage auf. Das hochdramatische stand ihr ebenso zur Verfügung, wie das Lyrische im „Glück das mir verblieb“.
Dem „dreiteiligen Charakter“ des Fritz, Freund, Zerrbild des Freundes und Pierrot, wurde Christoph Pohl mit seinem ausdrucksstarken, facettenreichen Bariton sowie seines engagierten Spieles hervorragend gerecht. Sein melancholisches Lied „Mein Sehnen, mein Wähnen“ geriet zu einem musikalischen Glanzlicht.
Der Brigitta verlieh Michal Doron mit ihrer dunkel-samtigen Altstimme das trauernde Moment der Haushälterin, die ins Kloster geht, aber dann doch zurück möchte.
Regelrecht surreal zur grauen Umwelt wirkte die Welt der leuchtenden Theaterleute, die von Fernanda Allande, Dominika Ṧkrabalová, Jongwoo Hong und Jürgen Müller auf die Bühne gebracht worden war.
Die musikalische Leitung von Dmitri Jurowski sicherte allein bereits den Erfolg der Aufführung. Mit seinem Dirigat trieb er die Musiker der Staatskapelle zu einer mitreißenden Klangorgie der rauschhaft-sinnlichen Musik Korngolds ohne dabei ins Sentimentale abzugleiten. Mit Bravour meisterte die Kapelle die schwierige Partitur. Sie ließ die spätromantische Klangfarben beeindruckend aufblühen und bot vom gehauchten Piano bis zum infernalischen Fortissimo alle Varianten der Dynamik in sauberem Dresdner Klang.
Die Chorszenen des Staatsopernchores und des beeindruckenden Kinderchores, von den bewährten Chorleitern Claudia Sebastian-Bertsch, Jonathan Becker und Jörn Hinnerk Andresen bestens vorbereitet, waren von Jurowski ebenso gekonnt in das Bühnengeschehen eingebunden, so wie auch die Kommunikation zwischen Graben und den Sängern absolut funktionierte.
Thomas Thielemann
Autor des Pressebildes: © Klaus Gigga
Credits:

Wiederaufnahme am 20. Dezember 2023-Semperoper Dresden
10. Vorstellung seit der Premiere des 16. 12. 2017
Die tote Stadt
Erich Wolfgang Korngold
Inszenierung : David Bösch
Bühnenbild: Patrick Bannwart
Kostüme: Falko Herold
Chor und Kinderchor der Sächsischen Staatsoper
Musikalische Leitung: Dmitri Jurowski
Sächsische Staatskapelle Dresden