Die gespaltene Gefühlswelt von Frauengestalten zwischen Unabhängigkeit und Liebe zu einem Mann ist seit Jahrtausenden ein Motiv in der Kunst der unterschiedlichsten Kulturkreise. Die Geschichte um die Prinzessin Turandot, „das Mädchen aus Turkestan“, ist bereits um 1199 im persischen Schrifttum in einer Erzählung „Die sieben Schönheiten“ des Elyas ebn-e Ysofs zu finden. Ein als „Derwisch Mokles“ bekannter Geschichtensammler hat die Episode im 17. Jahrhundert in eine Sammlung „Häzâr-jak Rûz-1001-Tag“ aufgenommen. Der französische Orientalist François Pétis de La Croix (1653-1713) brachte die Schriften nach Europa und übersetzte die Texte. Das Sujet der grausam-selbstbestimmten Prinzessin wurde vor allem in Italien und Frankreich unter anderem von Carlo Goldoni (1707-1793) und Carlo Guzzi (1720-1806) in unterschiedlichsten Ausprägungen bis hin zur Gesellschaftssatire verarbeitet. Die Transferierung der Handlung vor die Tore des chinesischen Beijings hat vermutlich der französische Vaudeville-Autor Alain René Lasagne (1668-1747) vorgenommen. Der Turandot-Knochen wurde im nachschaffenden Kulturbetrieb bis in die Gegenwart mit einer Unzahl von Opern, Schauspielmusiken, Suiten und Balletten benagt.
Für den deutschen Sprachraum hat Friedrich Schiller (1759-1805) im Jahre 1801 eine wenig gelungene romantisierende Nachdichtung der Commedia dellᶦarte des Carlo Gozzis angefertigt. Der Weg zu Giacomo Puccini (1858-1924) führt aber über eine Gozzi-Übersetzung von Karl Gustav Vollmoeller (1878-1948), der eine Fassung 1911 mit seinem Freund Max Reinhardt (1873-1943) sowie einer Bühnenmusik von Ferruccio Busoni (1866-1924) in Berlin herausbrachte. Ob Puccini diese Inszenierung erlebt hat, ist nicht verbürgt. Zumindest hatte aber die gegenüber Puccini geäußerte Schwärmerei einer Dame über das dramatische Potential der Reinhardt-Inszenierung zur Erarbeitung des Librettos durch Guiseppe Adami (1878-1946) und Renato Simoni (1875-1952), angeblich aber unter Nutzung der Schiller-Fassung, geführt. Trotzdem bleibt unklar, warum Puccini den für ihn untypischen Stoff nicht nur aufgenommen, sondern letztlich realisiert hat. Im Januar 1921 begann Puccini mit der Komposition der Oper. Nach mehrfachen Handlungs- und Textbuchkorrekturen, insbesondere die Einführung der Liù-Figur machte erhebliche Schwierigkeiten, hatte er im März 1924 die Partitur bis zum Tode Liùs fertig gestellt. Über die Gründe, warum das Schlussduett von Puccini nicht beendet wurde, gibt es nur Deutungen: Ob die sich manifestierende Kehlkopf-Karzinomerkrankung den Komponisten einschränkte oder ob Puccini mit dem extremen Charakterwechsel der Titelfigur im Finale nicht umgehen konnte und ihm deshalb schlüssige musikalische Einfälle für den Opernschluss fehlten, bleibt Vermutung.
War die Wahl des Sujets für Puccini nicht unbedingt wesenseigen, so kann auch die Musik nicht verleugnen, dass sie in der Zeit des erstarkenden Faschismus entstanden ist. Fritz Busch war der erste Turandot-Interpret, der in Dresden 1926 die Oper mit dem von Franco Alfanz (1875-1954) mit Puccinis Skizzen nach geschaffenem Schluss zur Aufführung brachte und Toscaninis Kürzungen ignorierte. Die Interpretation der Französin Marie-Eve Signeyrole ist die fünfte Dresdner Inszenierung des Puccini Erfolgswerkes, so dass sich an dieser Stelle eigentlich eine Erläuterung der Handlung erübrigen sollte. Aber die für ihre kreativen Auslegungen bekannte Regisseurin hat, aus dem „es war einmal“ des Librettos ein „es könnte einmal so kommen“ gestaltet: In einem nicht näher definierten, diktatorisch regierten Staat, so das Programmheft, wäre nur Turandot, die Tochter des Autokraten, in der Lage, Kinder zu empfangen. Um den Weiterbestand der Spezies zu sichern, wäre ein künftiger Partner der Herrschers-Tochter zu finden. Mit der Orientierung der Handlung an „Hungerspielen“ des „Die Tribute des Panem“-Sujets der Suzanne Collins sollte das mit öffentlich ausgetragenen Ratespielen auf Leben und Tod, den „Turandot-Games“ erfolgen. Calaf wird sich dem Kampf stellen. Dem Besucher bleibt überlassen, wie er für sich, aus den zahllosen Anspielungen auf Aspekte unseres gesellschaftlichen Umfelds, seinen individuellen Blick auf unser „Heute“ zusammenbaut. Man könnte den Versuch einer Demokratie-Satire vermuten, während es sich bei Puccini mehr nach einem Triumph des Totalitären anhört. Aber alle die sich auf eine die Ausdeutung des Turandot-Sujets eingelassen haben, wurden zu Grenzgängern zwischen Albtraum und Wirklichkeit.
Puccinis musikalische „Vorlage“ verlangte von der Regisseurin eine geradlinige Vorgehensweise. Das machte allerdings eher den Eindruck eines flott geschnittenen Films. Die Filmemacherin überfrachtete das Geschehen auf der Bühne mit einer Unzahl von Video-Sequenzen, die von Live-Kameras aus dem Agieren der Protagonisten heraus mal auf eine Großbildwand, mal auf kleinere Projektionsflächen übertragen wurden. Das möge interessant sein, wenn Details von der Bühne auch aus dem dritten Rang verfolgt werden konnten, führte aber zu einer extremen Reizüberflutung der Betrachtenden. Das mag zwar dem Zeitgeist entsprechen, aber für die hervorragende Musik blieben zumindest bei mir nur noch Reste des Aufmerksamkeitsspektrums. Es sei denn, man konnte sich der Informationsfülle weitgehend entziehen, wenn zügig durch inszeniert wurde.
Das kreativ gestaltete Bühnenbild Fabien Teignés einer Arena-Spielfläche nutzte vor allem die Möglichkeiten der Hydraulikanlage der Semperbühne. Da wurden Spielbereiche nach Bedarf aufgebaut und gelegentlich die gesamte Arena vertikal verschoben. Da war ständig „Action“ geboten. In der glänzenden Personenführung erlebte man die Opern-Handwerkskunst Heiko Henschels, den wir leider auch wieder nur als Co-Regisseur erleben durften, zu spüren.
Das Erstaunliche an dieser Deutungsweitung blieb, dass die Figuren nicht eindimensional wirkten und Identifikationspotentiale eröffneten. Reizvoll problematisch erschien der Regie der Gegensatz zwischen den großen Massenszenen mit ihren vielen Chorsängern und den eigentlich zentralen Handlungspassagen, in denen es vor allem um Calaf und Turandot ging.
An den „Bewohnern von Pramen“ der verfilmten Collins-Romane orientierten sich auch die Kostüme von Yashi Tabassomi, indem sie eine streng geteilte Kleiderordnung für die „Protagonisten“, sowie die unterschiedlichen Besucher gruppen der Spiele einhielt und dabei vor knalligen Farbeffekten nicht zurückschreckte.
Sängerisch und orchestral hatte die Semperoper-Produktion beeindruckende Bilder und fantastische Stimmen zu bieten.
Zuerst müssen bei dieser Inszenierung die unfassbar präzisen Chöre genannt werden. Die beeindruckenden Szenen mit dem Volk bringen die ganze Kraft des Werkes zum Ausdruck und hinterließen beim Publikum mit ihrem großartigen Klang und der enormen Bühnenpräsenz eine starke Wirkung. Da hatte die französische Choreografin Julie Compans mit den Chorleitern Claudia Sebastian Bertsch und André Kellinghaus hervorragende Arbeit geleistet, wenn in den großen Chor-Tableaus der Staatsopernchor und der Kinderchor der Semperoper nicht nur erstklassisch singen, sondern auch mit den Massen-Choreografien auf Gegenwartsbezüge anspielen durften.
Die norwegische Sopranistin Elisabeth Teige bewältigte die anstrengende Titelpartie mit eindrucksvoller Souveränität. Ihre Turandot ist unbestreitbar mächtig. Ihre Stimme ist gewaltig und schwingt sich mühelos über das Orchester hinweg. Bis kurz vor dem Schluss blieb die Frage offen, ob ihr kaltes Herz je zum Schmelzen gebracht werde, so dass ein Fehlen eines Happy-Ends regelrecht in der Luft lag.
Elisabeth Teige stattete die Turandot mit den kostbaren Farben ihrer Stimme und ihre gewaltige Gestaltungskraft aus. Ihre Turandot war furchterregend und monströs. Das „In questa reggia“ kam hart wie Stahl über die Bühne, dass der Glaube an ein gutes Ende verloren ging. Sie legte ihre Turandot vor allem auf dramatische Verausgabung an, ohne dass ihre Stimmführung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es blieb das diffizile Ende der Oper, das jeder Sopranistin Schwierigkeiten bringt, die Rolle auch glaubwürdig bis zum Schluss zu definieren. An die Rechtschaffenheit ihrer Darstellung ließ uns glauben, weil Calaf immer wie ein überzeugter Sieger aussah, dass er triumphieren werde.
Dankbarer ist immer die lyrische Sopranpartie der Liù, weil sie das hat, was der Titelheldin fehlt: Innigkeit, Zärtlichkeit, Herzenswärme. Die aus dem Kosovo stammende Elbenita Kajtazi spielte und sang diese Werte mit schönen hellen Timbres und Strahlkraft optimal aus. Ihre klare, tragende Stimme füllte mühelos das Haus und traf alle Töne, wenn sie im „Signore, ascolta“ ihre Treue zu Timur zum Ausdruck brachte und ihre Leidenschaft zu Calaf verschleierte.
Eine glanzvolle Leistung offerierte der koreanische Tenor Yonghoon Lee. Sein Calaf stach besonders hervor, dass er von der stimmlichen Kraft der norwegischen Elisabeth Teige einfach nie überwältigt oder gar in den Schatten gestellt wurde. Die Stimme hatte Kraft und Wärme mit ihrer leicht abgedunkelten Tönung
In seinem „Non piangere, Liù“, seine Bewegtheit in der Szene mit seinem Vater Timur war Yonghoon Lee zärtlich und sanft. Ansonsten präsentierte er seine Rolle, seinen Gesang nur begrenzt emphatisch, so dass er aus dem „Nessun dorma“ keinen aufgedonnerten Schmachtfetzen machte, sondern eine genau dosierte Steigerungsform der Wirkung gestaltete
Den seinem Einfluss nachtrauernden Timur verkörperte der russische Bassist Aleksei Kulagin mit bewegender, klangvoller Stimme. Als tragische, gebrechliche Figur, jetzt blind und verletzlich, war die Chemie auf der Bühne mit Yonghoon Lee und Elbenita Kajtazi richtig bewegend.
Jürgen Müllers Gesang als Diktator Altoum war mit seiner subtilen Darbietung stark genug, das Haus zu füllen. Die Weisheit des gottähnlichen Despoten vermittelte er mit viriler und doch warmer Stimme, entsetzt, bedauernd und doch machtlos gegenüber den Kapricen seiner männervernichtenden Tochter.
Als Vertreter einer Gewaltenteilung spielten und sangen der italienische Gast-Bariton Alessio Arduini den Ping und die zum Hausensemble gehörigen USA-Tenöre Simeon Esper den Pang sowie Aaron Pegram den Pong in ihren prachtvollen Kabinettstücken. Da schimmerte auch gelegentlich Eindeutigkeit, wenn der die Medien verkörpernde Simeon Esper im Zusammenhang mit einer Berichterstattung mal festgebunden wird.
Schöne und qualifizierte solistische Leistungen waren auch bei den kleinsten Rollen zu erleben, wenn die dem Chor angehörenden Sopranistinnen Petra Havránkova und Anna Sax-Palimina die Passagen der beiden Mädchen sangen und spielten. Bemerkenswert waren der tadellos singende „Regierungssprecher“ des seit 2019 im Hausensemble verankerten US-Amerikaner Lawson Anderson und die kurze Sequenz des persischen Prinzen koreanischen Tenor Jo Hyunkwang.
Als Musikalischer Leiter des Abends sicherte Ivan Repušić eine Aufführung voller Spannung und großartiger Momente. Die Art und Weise, wie er jeden Faden im zum Teil recht heiklen Werk mit einem engen Ensemble zusammenführte, sorgten für eine beeindruckende Aufführung. Gesang und Instrumentales blieben im gebührenden Verhältnis mit einer angemessenen Tempogestaltung. Wie eigentlich immer, waren am Premierenabend die Einsätze de Musiker hochpräzise und die Koordinierung mit den Singenden und dem Chor perfekt. Die Musiker schwelgten in der kreativen Verschmelzung von Marimbas, Gongs sowie umfangreicher Schlagzeuge und setzten sich in die fast atonalen symbolträchtigen Bläser-Akkorde. Dabei ließen sie die große Trommel dämonisch dröhnen, ohne dass sanfte Passagen fehlten.
Das Publikum reagierte mit großem Zuspruch für die Chöre, die Gesangssolisten und den Dirigenten einschließlich des Orchesters. Auch beim Erscheinen des Regieteams gab es Jubel und keine erkennbaren Unmutsbekundungen.
Thomas Thielemann

Autor des Bildes: © Ludwig Olah

Credits:
7. Oktober 2023 Premiere –Semperoper Dresden
Turandot
Giacomo Puccini
Inszenierung: Marie-Eve Signeyrole
Co-Regie: Heiko Hentschel
Bühne: Fabien Teigne
Kostüme: Yashi
Video: Artis Dzērve, Marie-Eve Signeyrole
Choreografie: Julie Compans
Musikalische Leitung: Ivan Repušić
Sächsische Staatskapelle Dresden