Den Auftakt des Konzertes bildete Béla Bartóks „Violinkonzert Nr. 2 Sz 112“: Bartok komponierte sein zweites Violinkonzert in den Jahren 1937 bis 1938 für seinen Freund und langzeitigen Konzertpartner Zoltán Székely (1903-2001) erst nach einigem Zögern. Er fürchtete, dass der in Holland lebende Geiger keine Zeit für eine Konzerttätigkeit finden könne und sein zweites Violinkonzert ein ähnliches Schicksal erleidet, wie seine Komposition der Jahre 1907/1908. Bartók hatte zu dieser Zeit eine Liebesbeziehung mit der ungarischen Violinistin Stefi Geyer (1888-1956). Als Stefi das Verhältnis im Februar 1908 beendete, schickte Bartók mit seinem Abschiedsbrief der Geigerin das Autograf der ihr gewidmeten Komposition. Diese hielt ihr hymnisch aufschwingendes musikalisches Idealbild unter Verschluss, so dass Bartóks „erstes Violinkonzert Sz. 36“ erst nach ihrem Tode und damit 13 Jahre nach dem Versterben des Komponisten uraufgeführt werden konnte.
Auch sein zweites Violinkonzert konnte Béla Bartók nur einmal, im Oktober 1943 in New York, hören. Denn Bartók war vor der Uraufführung mit Székely am 23. März 1939 bereits emigriert.
Der 1984 als Sohn deutscher Eltern in Italien geborene hochbegabte Violinist Augustin Hadelich war bereits in jungen Jahren nach New York gegangen und ist zunächst vor allem in Nordamerika aufgetreten. Inzwischen hat er sich zunehmend die europäischen und fernöstlichen Konzerthäuser mit deren Publikum erschlossen. Über neun Jahre bis zum Jahre 2020 spielte Augustin Hadelich ein Instrument aus der Werkstatt von Antonio Stradivari (um 1644-1737), die so benannte „ex-Kiesewetter“ aus dem Jahre 1723. Seit dem wurde ihm die legendäre „Guarneri Leduc/ ex Henryk Szeryng“ von 1744 zur Verfügung gestellt. Die Violine gilt als die letzte Arbeit des Bartolomeo Giuseppe Guarneri „del Gesù“ (1698-1737). Es wird sogar vermutet, dass erst seine aus Wien stammende Frau Katarina das Instrument nach dem Versterben des Cremonenser Meisters fertiggestellt habe. Gegenüber der „ex-Kiesewetter“, die einen raffinierten hellen Klang anstrebt, bevorzugt die von Simon Leduc (1742-1777) sowie Henryk Szeryng (1918-1988) fast zwanzig Jahre gespielte Guarneri eine dunklere, lebendigere, menschliche Klangfarbe. Mit ihrer Fülle und Komplexität füllt sie mühelos die größten Konzertsäle.
Mit Jakub Hrůša hat Augustin Hadelich bereits mehrfach Konzerte und Einspielungen bestritten. Für die Sächsische Staatskapelle war das siebte Symphoniekonzert das erste Zusammenwirken mit dem Violinisten.
Beim Hören des „zweiten Violinkonzerts Sz 112“ von Béla Bartók (1881-1945) sollte man sich seine Themen bei deren ersten Erklingen einprägen, um im weiteren Verlauf die Umkehrungen, Erweiterungen oder Konzentrierungen bewusst verfolgen zu können. Nur dann kann man der Gefahr eines verwirrenden Eindrucks der Darbietung entgehen und Bartóks Gedankenentfaltung einigermaßen erfassen.
Acht Anschläge der Solo-Harfenistin Johanna Schellenberger eröffneten und Augustin Hadelich zeigte mit der Vorstellung des melodischen Hauptthemas des Kopfsatzes seinen Gestaltungswillen, übernahm seine Verantwortung als Führender. Jakub Hrůša ließ das Orchester zunächst beschwichtigend folgen. Vehement ausbrechende, aufrüttelnde Passagen wechselten sich mit Beruhigtem ab. Das Konfliktbeladene, Sperrige und Aufrüttelnde der Musik bestimmte, ohne dass der Solist ins Extreme abdriftete. Hadelichs Tongebung blieb immer dem Schönklang verbunden, mied das allzu Schrille ebenso wie das ganz Fahle. Zunächst nur zurückhaltend mischte sich das Orchester ein. Mit zunehmender Länge des zerklüfteten Satzes schien der Fortgang der musikalischen Entwicklung verloren zu gehen, als Bartók dem robusten Anfangsthema eine Zwölftonmelodie zur Seite gestellt hatte. Die Orientierungslosigkeit mündete in eine Vierteltonpassage der Sologeige. Die gefürchtete hochvirtuose Kadenz brachte den Solisten wieder auf den richtigen Weg und führte ihn sicher zum Schluss des Satzes.
Andere Facetten erforderte der zweite Satz „Andante tranquillo“ vom Solisten und vom Orchester. Hadelich mied mit seiner Darbietung des lyrischen Soloparts alles demonstrativ Aufgesetzte und entwickelte die sechs freien Variationen. Die Staatskapelle bot mit ihrem kompakten und facettenreichen Klang dem Solisten die musikalische Basis für sein herrliches Spiel, ergänzte das Solo, unterstützte mit zarten Streichern oder stellte sich als satter Klangkörper daneben. Jakub Hrůša ließ. großartige Klangbilder erstehen und erwies sich als ein Dirigent, der keine Show brauchte. Viel Kommunikation zwischen Solist und Orchester war im dritten Satz „Allegro molto“ gefragt. Hrůša ließ die Staatskapelle sehr präzise, dabei keinesfalls zurückhaltend musizieren, während Hadelich mit kraftvollem, energischem Spiel mit den Themen des Kopfsatzes antwortete.
Augustin Hadelich und Jakub Hrůša interpretierten die magische Klangfülle des Violinkonzertes emotional hinreißend. Das klangliche Hin und Her, die rhythmischen Besonderheiten, die folkloristischen Züge, alles konnte man hören. Das logisch aufgebaute Gefüge musikalischer Elemente, besonders die für Bartók typischen gesanglichen Passagen mit ihrer speziellen Harmonik waren auf das Wunderbarste zum Strahlen gebracht.
Für den frenetischen Applaus des Auditoriums bedankte sich Hadelich mit einer Zugabe.

Die zweite Komposition des Konzertprogramms, das „Nocturne für Streichorchester H-Dur op. 40“ von Antonin Dvořák (1841-1904) weist uns nach, dass auch kleine und kurze Werke eine verrückte Entstehungsgeschichte aufweisen können. Als 28-Jähriger Orchestermusiker experimentierte der „Feierabend-Komponist“ Dvořák mit einem e-Moll Streichquartett „der klassischen Vielsätzigkeit in der Einsätzigkeit“, das bedeutete, dass die vier Sätze ineinander übergingen. Dieses als viertes Streichquartett ohne Opus in Dvořáks Werkgeschichte Eingegange, wurde zu seinen Lebzeiten nie gespielt. Er hat dieses Formexperiment auch nie wiederholt, rettete aber aus dem Versuchsverband das „Andante religiosi“, um es 1875 im zweiten G-Dur-Streichquintett op. 18 zu verwenden. Mit geändertem Schluss und einer zusätzlichen Kontrabass-Stimme bildete es in dieser Urfassung einen zweiten langsamen Satz. In einer Überarbeitung des G-Dur-Quintetts entfernte er vor dessen Drucklegung diese Wiederverwendung und veränderte damit das Streichquintett zu seinem zum op. 77.
Das mehrfach verschobene „Andante religiosi“ fand dann im Jahre 1883 mit zwei Neufassungen, für Streichorchester bzw. für Violine und Klavier, seinen Weg als selbstständiges Stück „Nocturne H-Dur op. 40“in die Konzertsäle sowie in die Salons.
Die exzellent eingespielte Streichergruppe der Sächsischen Staatskapelle spielte das „Nocturne“ ästhetisch, stilvoll und formbewusst. Dabei betonten die hervorragenden Musiker den Dresdner Klang. Aus dem andachtsvollen Schreiten des „Andante religioso“ der Urfassung von 1870 war inzwischen dank der mehrfachen Überarbeitung des Entwurfs das Stück zu einem sehr behaglichen „Molto adagio“ gewandelt.
Ob des Suchens Dvořáks, wie er sich mühte, seinen musikalischen Einfall von 1869 irgendwie einem breiteren Hörerkreis erschließen zu können, hatte mich zum Nachdenken über den Menschen Antonin Dvořák gebracht. Wie er sich als Prager Orchester-Bratscher vergeblich abplagte, erfolgreiche symphonische Werke zu schaffen, bis ihm dann der ältere erfolgreiche Johannes Brahms (1833-1897) die richtigen Impulse vermittelte. Dvořák wird uns als bescheidener umgänglicher Familienmensch mit tiefer Religiosität nahe gebracht. Er war aber auch Naturliebhaber und den technischen Neuerungen seiner Zeit gegenüber aufgeschlossen. Die Eröffnung des Teilstücks Prag-Lobositz der k.k. Nördlichen Staatsbahn am 1. Juni 1850, die der neunjährige Antonin auf dem Bahnhof seines Heimatortes Nelahozeves erlebte, weckte in ihm eine lebenslang anhaltende Begeisterung für das Eisenbahnwesen. Die Geräusche mit Dampf betriebener Lokomotiven und Schiffe, aber auch die Kennzeichnungssystematik der Bahnunternehmen und die Präzision der Einhaltung der Fahrpläne haben ihn fasziniert und bei seinen Kompositionen oft inspiriert.
Im dritten Konzertteil lernten wir mit Arthur Honegger (1892-1955) einen weiteren begeisterten Anhänger der mit Dampf betriebenen Eisenbahnen kennen, der sich von ihrem Anblick und den Arbeitsgeräuschen hat anregen lassen. Er verdankte seinen Durchbruch als Komponist dem Portrait der bis Mitte der 1920-er Jahre europaweit und in den USA eingesetzten schnellsten Lokomotive der Welt. Ihre Ausstattung mit vorauslaufendem zweiachsigen Drehgestell, drei Kuppelachsen und seitenbeweglicher Nachlaufachse führte dank ihrer Systematisierung bei der französischen Eisenbahn zur Bezeichnung der Lokomotive zu „Pacific 231“. Das 1923 entstandene neunminutige „Mouvement symphonique“ wurde von der Tschechischen Philharmonie unter Serge Kussewizki (1874-1931) im Mai 1924 fast tagesgleich dem Publikum in Paris sowie in Prag vorgestellt und machte Honegger auf Anhieb bekannt. Im Konzert hörten wir allerdings Honeggers dritte Symphonie „Symphonie liturique“ von 1946:
Der Neoklassizist Arthur Honegger gilt als Schweizer Komponist, obwohl er in Le Havre geboren ist und die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich verlebte. Dank seiner Eltern verfügte er über die Schweizer Staatsbürgerschaft. Selbst die Zeit der deutschen Besatzung von Paris im zweiten Weltkrieg konnte er mit Kontakten sowohl zur Resistance als auch der Kollaboration dank seines Schweizer Passes überleben. Besonders in seiner unter dem Eindruck des Geschehens des zweiten Weltkriegs geschrieben zweiten Symphonie fühlte er sich mit seiner Musik gleichsam den Tätigkeiten der Kathedralen als auch der Fabriken verbunden, so dass sich in seinen Kompositionen die Welt der Maschinen mit der von Altarwänden und Kirchenfenstern vermischten. Honeggers dritte Symphonie mit dem Beinamen „Liturgique“ entstand in der unmittelbaren Folge des Völkermordens des zweiten Weltkriegs. Jedem der Sätze des Werkes sind Textworte aus der katholischen Totenmesse vorangestellt, ohne dass in der Musik die in der Liturgie gebräuchlichen Themen verwendet worden waren.
Der erste Satz „Dies irae“ schilderte die Gewalt und die Verwüstungen, die der Welt widerfahren sind. Mit einem grellen, von markanten Rhythmen begleiteten Aufschrei, eröffnete Jakub Hrůša das „Tag des Zorns“, vermied aber, dass die Musiker in einen plakativ stampfenden Takt verfallen konnten und stets die klangliche Transparenz wahrten. Regelrecht maschinell ließ Hrůša mit ständigen Wiederholungen das Chaos des Krieges symbolisieren, wobei die Holz- und Blechbläser alarmierend kreischten.
Das „De profundis clamavi“ des zweiten Satzes war Ausdruck der Verzweiflung über das Geschehene, aber auch der Hoffnung, die trotzdem im Herzen der Menschheit erhalten bleibe. Ein dumpfes Gebet aus den Tiefen der Instrumentengruppen stieg am Beginn des „ich rief aus der Tiefe“ auf und wurde von den Violinen mit voller Schönheit aufgenommen. Jakub Hrůša ließ das Orchester klangvolle Melodien entwickeln. Vor allem die Klarinetten und Celli dominierten in diesem gesanglichen Teil, der einer dramatischen Entwicklung zustrebte. Mit dynamischen Steigerungen intensivierte Hrůša die Musik und wechselte drohende Passagen mit süßlicher Sphärenmusik. Doch das Grollen im Bassregister des Klaviers kündigte den weiteren emotionalen Aufruhr, so dass der Dirigent das Orchester gnadenlos bis an die Schmerzgrenze voran schreiten ließ, bevor die Klänge mit einem Flötensolo in Verlorenheit verhallten.
Im dritten Satz tobt der Kampf gegen die Verbohrtheit der Mitwelt, gegen alle Plagen, die die Menschheit quälen und zu ihrer Verzweiflung führen. Die menschliche Gesellschaft kämpft und wehrt sich mit dem Aufschrei „Dona nobis pacem“. Die innere Ruhe aus dem Glauben, der Friede des Herzens, die Natur, das Leben, wie es sein könnte, wenn die Völkerfamilie guten Willens wäre, deuteten sich an. Aber solange Ideologen die Gesellschaften bestimmen, bleibt diese Hoffnung ohne Erfüllung. Mit einem steigerndem Rhythmus setzte das „Dona nobis pacem“ ein. Jakub Hrůša entwickelte das marschartige Tempo des „Herr gib uns Frieden“ zu einem erdrückenden, dissonanten Höhepunkt, den die Staatskapellen-Blechbläser kraftvoll vortrugen. Hrůša blieb auch in dieser teils lärmigen Beklemmung klar strukturiert und formend. Die versöhnlichen Klänge konnten sich nicht durchsetzen. Vermeintliche Freude vermag nicht zu strahlen und wurde durch Dissonanzen der Holzbläser und die grummelnden Pauken kupiert. Der Versuch des Cellos von Sebastian Fritsch und der Violine der Yuki Janke, einen Hoffnungsschimmer zu setzen, konnte einfach nicht durchdringen.
Mit seiner kompromisslosen Interpretation sicherte Jakub Hrůša mit einer hervorragenden Partnerschaft mit der Staatskapelle die Emotionen, die von Arthur Honeggers Komposition ausgingen. Ihm gelang, die Spannung eine halbe Minute zu halten, bevor der Applaus losbrach.
Das spannende vielschichtige Konzert hatte beeindruckende Werke wirkungsvoll kombiniert. Zugegebener weise war das keine leichte Kost, aber eine überaus lohnenswerte, nachhaltige und bereichernde Erfahrung.
Thomas Thielemann
Autor des Pressebildes: © Oliver Killig

Credits:
Matinee des 7. Symphoniekonzerts der Sächsischen Staatskapelle
3. März 2024; Semperoper Dresden
-Béla Bartók: Violinkonzert Nr. 2 Sz 112
-Antonín Dvořák: Nocturne für Streichorchester H-Dur op. 40
-Arthur Honegger: Symphonie Nr. 3 „Symphonie liturgique“
Solist: Augustin Hadelich, Violine
Dirigent: Jakub Hrůša
Sächsische Staatskapelle Dresden